Rück- und Ausblick

Viel geschafft, aber noch viel zu tun

Die 19. Legislaturperiode ist aus gesundheitspolitischer Sicht außergewöhnlich gewesen. Geprägt einerseits durch tiefgreifende Reformen, angestoßen von einem überaus aktiven Gesundheitsminister und Gesetzgeber, und andererseits geprägt durch die omnipräsente und bestimmende Covid-19-Pandemie. Die Wenigsten dürften sich noch an alle Gesetze erinnern, die unter der Ägide des Ministers Jens Spahn entstanden sind. Kaum ein Bereich des Gesundheitssystems blieb unberührt vom Reformdrang. Jeder Rückblick auf die gesundheitspolitische Legislaturperiode kann bestenfalls nur im Parforceritt geschehen und sich nur auf die Big Points konzentrieren.

Symbolbild: Rück- und Ausblick

Gleich zu Beginn der Legislaturperiode wurde mit dem Versichertenentlastungsgesetz die vollständige Beitragssatzparität in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) wiederhergestellt. Damit ist eine Forderung umgesetzt, die der Verband der Ersatzkassen e. V. (vdek) seit vielen Jahren erhoben hat. Jetzt wird auch der kassenindividuelle Zusatzbeitrag wieder jeweils hälftig von Arbeitnehmer:in und Arbeitgeber:in bezahlt und wird nicht vollständig allein den Arbeitnehmer:innen aufgebürdet. Zudem wurden den Kassen Obergrenzen der kasseneigenen Rücklagen auferlegt. Darüber hinaus sollten die Finanzreserven über die nächsten Jahre schrittweise abgebaut werden. Letzteres ist ein Eingriff in die Finanzautonomie der Selbstverwaltung.

Steigerung der Kosten

Den sachkundigen Beobachter:innen dürfte auch das Terminservice- und Versorgungsgesetz noch in Erinnerung geblieben sein. Ein wahres Omnibusgesetz, das das gesundheitspolitische Berlin wochenlang in Atem hielt und dessen zentralste Neuerung wohl war, dass Kassenversicherte künftig schneller an fachärztliche Termine kommen sollen. Hierfür wurde die Systematik des sogenannten extrabudgetären Honorars ausgebaut, was zu umfangreichen Vergütungserhöhungen für die niedergelassenen Ärzt:innen führte. Diese und andere Regelungen und Leistungsausweitungen, wie etwa die Erhöhung des Festzuschusses für den Zahnersatz von 50 Prozent auf 60 Prozent oder das Verbot der Ausschreibungen für Hilfsmittel, haben wiederum zu erheblichen Kostensteigerungen bei den Krankenkassen geführt.

Fairer Wettbewerb

Aus Sicht der Ersatzkassen war das Faire-Kassenwettbewerb-Gesetz (GKV-FKG) das gesundheitspolitische Großprojekt. Durch eine umfassende Reform des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs (Morbi-RSA) wurde der Finanzausgleichsmechanismus zwischen den Kassen neu austariert und  durch verschiedene Instrumente manipulationssicher neu ausgestaltet. Regionalkomponente, Risikopool, Vollmodell und die Abschaffung von Sonderregelungen sorgen nun dafür, dass der Wettbewerb zwischen den Krankenkassen künftig fairer abläuft. Das Gesamtpaket beseitigt erhebliche Verwerfungen im RSA. Dafür haben sich die Ersatzkassen im Verbund mit Betriebs- und Innungskrankenkassen seit langem intensiv eingesetzt. Weiterer Verbesserungsbedarf im Morbi-RSA bleibt: etwa der fehlende Ist-Kosten-Ausgleich beim Krankengeld und bei den RSA-Zuweisungen für Auslandskrankenversicherte. Hier hat sich der Gesetzgeber mit dem Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz (GVWG) mittlerweile auf den Weg gemacht.

Ausbau der Digitalisierung

Auch die Digitalisierung des Gesundheitswesens kam nicht zu kurz, die seit der Einführung der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) 1995 eher das große Sorgenkind war. Gleich drei Digitalisierungsgesetze brachte Minister Spahn auf den Weg. Kern der Digitalisierungsagenda: Die elektronische Patientenakte (ePA) wird schrittweise ausgebaut und mit weiteren Anwendungen, etwa dem E-Rezept oder dem E-Impfpass, für den Versicherten tatsächlich nutzbar gemacht. Darüber hinaus sollen Gesundheits-Apps mehr und mehr den Weg in die Regelversorgung finden. Dennoch mangelt es hier nach wie vor an einem fairen Preisfindungsverfahren. Natürlich schlug sich auch die Covid-19-Pandemie in der Gesetzgebung nieder. Rettungsschirme für die Leistungserbringer wurden aufgespannt und durch schnelles, flexibles und umsichtiges Handeln aller Akteure konnten das Gesundheitssystem stabilisiert und eine ausreichende medizinische Versorgung während der Pandemie bisher gewährleistet werden. Die GKV als selbstverwaltetes System hat in enger Koordination mit den anderen Sozialversicherungszweigen die Leistungsfähigkeit und stabilisierende Wirkung der sozialen Sicherungssysteme eindrücklich unter Beweis gestellt.

Pflichtenheft für die Zukunft

Mit Blick auf die vergangenen Jahre ist schnell klar: Viel wurde geregelt, aber ebenso viel auch außen vor gelassen. Das Pflichtenheft des Gesetzgebers für die nächste Legislaturperiode ist lang. Mit ihrem Positionspapier bringen die Ersatzkassen sich konstruktiv in die Diskussion ein. Das Ergebnis zeugt von der Verantwortung für eine qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung, die die Ersatzkassen mitgestalten und fortentwickeln wollen.

Es muss eine Evaluierung aller Covid-19-bedingten Regelungen geben. In Pandemiezeiten wurden Dinge ermöglicht, die zuvor undenkbar erschienen. Beispielhaft stehen hier die Tele-AU, Ausweitung von Videosprechstunden oder die coronabedingte Substitution ärztlicher Leistungen in bestimmten Bereichen. Solche Regelungen bieten sich auch für die Regelversorgung an. Gemeinsam mit allen Akteuren im Gesundheitssystem sollte geprüft werden, welche weiteren Maßnahmen in die Regelversorgung übernommen werden können. Es sollte aber auch geprüft werden, wie zielgenau die Rettungsschirme in den einzelnen Leistungsbereichen gewirkt haben.

Einheitliche Aufsicht

Die einheitliche Bundesaufsicht über die gesetzlichen Krankenkassen unter dem Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS) muss kommen. Auch rein regional geöffnete Krankenkassen sollten der Aufsicht des BAS unterstehen, genauso wie es bundesweit geöffnete Krankenkassen bereits tun. Die Aufsichtspraxis zwischen den Landesaufsichtsbehörden und der Bundesaufsicht ist zu unterschiedlich. Nur so kann dieser ungleichen Behandlung wirksam entgegengetreten werden, denn dies verzerrt den Wettbewerb zwischen den Krankenkassen und geht letztlich zulasten der Versicherten. Die Finanzierung der GKV ist nachhaltig zu sichern durch einen verstetigten, höheren Steuerzuschuss aus dem Bundeshaushalt in den Gesundheitsfonds, einem einheitlichen ermäßigten Mehrwertsteuersatz auf die Gesundheitsleistungen, die von der GKV zu zahlen sind, und einen angemessenen Beitrag für Hartz IV-Bezieher:innen. Für das Jahr 2022 ist außerdem sicherzustellen, dass die unter anderem pandemiebedingte Finanzierungslücke angemessen finanziell gedeckt wird. Perspektivisch bedarf es aber auch politischer Entscheidungen zur Kostendämpfung bei den Leistungsausgaben.

Stärkung des Ehrenamts

Die politischen Eingriffe in die Handlungsautonomie der Selbstverwaltung sind zu unterlassen und ihre Gestaltungsmöglichkeiten auszuweiten. Die massiven Einschränkungen – beispielsweise bei der Beitragssatzgestaltung der Krankenkassen und bei der Vorabgenehmigung von Vorstandsverträgen – sind ausdrücklich abzulehnen und zurückzunehmen. In den Verwaltungsräten der Krankenkassen treffen die Selbstverwalter:innen verantwortungsvolle Entscheidungen. Das Ehrenamt in der Sozialen Selbstverwaltung ist zu stärken, etwa über angemessene Steuerfreibeträge für die Aufwandsentschädigungen der ehrenamtlichen Selbstverwalter:innen.

Ziel müssen auch der Ausbau der digitalen Behandlungsmöglichkeiten sein und eine digitale Gesundheitsversorgung, in der Qualität vor Quantität kommt. Faire Preisbildung aller digitalen Gesundheitsprodukte und die Geltung des verhandelten Preises rückwirkend ab dem ersten Tag der Markteinführung müssen der Standard sein. Ein fairer Preis muss sich aus dem konkreten Nutzen für Patient:innen ableiten lassen. Zudem müssen die Aufgaben der gematik begrenzt werden. Die gematik sollte wieder auf die Zulassung und die Spezifikation von Anwendungen der Telematikinfrastruktur beschränkt werden. Die Selbstverwaltung muss wieder verbindlich an den Verfahren innerhalb der gematik beteiligt werden.

Stärkung der Gesundheitskompetenz

Die Stärkung und Verbesserung der Gesundheitskompetenz der Bevölkerung muss als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden werden. Passgenaue Versorgungs- und Präventionsprojekte der Krankenkassen und das Nationale Gesundheitsportal zur Bereitstellung von seriösen und gesicherten Informationen sind bereits gute Zwischenschritte, die gemacht wurden. Auch die Lebensmittelindustrie muss stärker in die Pflicht genommen und ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden. Ansätze wie der Nutri-Score sollten weiter verfolgt und zunehmend verbindlich werden.

Die Abschaffung des ersten Jahres der freien Arzneimittelpreisbildung wird ebenfalls gefordert. Der am Ende des AMNOG-Verfahrens verhandelte Erstattungsbetrag soll rückwirkend ab dem 1. Tag nach Markteintritt gelten.

Im stationären Sektor muss konsequent Qualitätsverbesserung durch Leistungsverdichtung praktiziert werden. Gerade die Covid-19-Pandemie hat gezeigt, dass besonders kritische Fälle, wie beispielsweise intensivmedizinische Beatmungsfälle, vor allem an hochspezialisierten Fachkrankenhäusern oder Krankenhäusern der Schwerpunktversorgung konzentriert wurden. Leistungen müssen in urbanen Ballungsgebieten konzentriert und im ländlichen Raum muss die Zusammenarbeit zwischen stationärer und ambulanter Versorgung gestärkt werden.

Weiterentwicklung der DRG

Die diagnosebezogenen Fallgruppen (DRG) müssen weiterentwickelt werden. Dazu gehören auch der Einbezug von Vorhaltekosten, eine Differenzierung der Vergütung anhand von Versorgungsstufen und die adäquate Abbildung der Kosten für pflegerische Leistungen.

Eine nachhaltige Reform der Pflege ist nach wie vor notwendig. Es braucht einen dauerhaften, angemessenen und verlässlichen Steuerzuschuss in der Pflegeversicherung, um den Anstieg der Gesamtbelastung der Pflegebedürftigen spürbar zu begrenzen. Die private Pflegeversicherung ist am gemeinsamen Finanzausgleich mit der sozialen Pflegeversicherung (SPV) zu beteiligen. Die Leistungen der Kurzzeit- und Verhinderungspflege sind zu einem jährlichen Entlastungsbudget zusammenzufassen. Zusätzlich müssen die Bundesländer die Investitionskosten verbindlich übernehmen.

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