Interview mit dem Physiologen und Charité-Dekan Prof. Dr. Axel Radlach Pries

„Nationalismen sind keine Lösung“

Die Corona-Pandemie führt auch die Bedeutung internationaler Zusammenarbeit in Politik, Wissenschaft und der Gesundheitsversorgung vor Augen. Prof. Dr. Axel Radlach Pries ist Präsident des jährlich in Berlin stattfindenden World Health Summit, einer der weltweit führenden Global Health-Konferenzen. Im ersatzkasse magazin. spricht er über Versäumnisse während der Pandemie, über die Notwendigkeit internationaler Kooperationen und den Umgang mit Impfstoffen.

Prof. Dr. Axel Radlach Pries, Dekan der Charité

Die Charité steht seit Ausbruch der Corona-Pandemie wie andere Organisationen und Institutionen im Zentrum des Geschehens. Wie haben Sie die letzten anderthalb Jahre erlebt, sowohl persönlich als auch in Ihrer Funktion als Dekan der Charité?

Axel Radlach Pries: Während dieser Zeit haben sich Dinge bewegt, die sich sonst eher langsam und kontinuierlich entwickeln. Durch die große pandemische Herausforderung entstand plötzlich eine ganz neue Dynamik. In diesem Prozess hatten wir gar keine Zeit, über die Veränderungen im Alltagsleben nachzudenken, sondern mussten uns darauf konzentrieren, wie wir an der Charité auf den verschiedensten Ebenen reagieren. Hier hat sich viel Positives gezeigt, auch über die Charité hinaus. Beispielsweise ist die Zusammenarbeit in der Wissenschaft geradezu explodiert.

Können Sie Beispiele nennen?

Wir haben am Anfang der Pandemie zusammen mit dem Berlin Institute of Health (BIH) das „Charité/BIH COVID-19 Research Board“ gegründet. Es ging darum, Kräfte zu bündeln und Ressourcen optimal zuzuordnen. Das hat zu einer Zusammenarbeit im kollegialen Sinne geführt, die wir vorher in diesem Umfang nicht kannten. Der Kooperationsgedanke hat auch die Arbeit des vom Bund geförderten Nationalen Netzwerks Universitätsmedizin (NUM) beflügelt. Das NUM wurde 2020 auch auf Initiative von Prof. Dr. Heyo K. Kroemer, dem CEO der Charité, quasi über Nacht aus dem Boden gestampft. Ziel ist es, Diagnostik-, Behandlungsstrategien und Forschungsansätze möglichst aller deutschen Universitätskliniken zusammenzuführen. Ein drittes Beispiel ist der Impfstoff. Während im April des vergangenen Jahres noch gezweifelt wurde, ob ein Impfschutz mit einer hohen Wirksamkeit gegen das Corona-Virus entwickelt werden könne, haben wir jetzt mehrere Impfstoffe mit einer Wirksamkeit von über 90 Prozent. Und als letztes Beispiel die Lehre an der Charité und hiermit verbundene Fragen: Wie können Studierende, die am Patienten geschult werden müssen, unter Covid-Bedingungen unterrichtet werden? Wie lässt sich verhindern, dass wir zwei Jahrgänge der Mediziner nicht angemessen ausbilden? Auch hier wurde Gewaltiges geleistet, verbunden mit einem neuen und positiven Teamspirit in der Krise.

Die Pandemie ist auch ein globales Problem. Wie nehmen Sie die Kooperation auf internationaler Ebene wahr?

In der internationalen Zusammenarbeit wurden durch die Krise eher Schwachstellen bloßgelegt. Eine große Schwäche, die 2020 sichtbar wurde, bestand darin, dass die Menschheit nicht die richtigen Lehren aus Infektionswellen der letzten Dekade gezogen hat. Die Ausbrüche von Schweinegrippe, SARS und Ebola wurden nicht als Warnung vor gefährlicheren Pandemien aufgefasst und haben nicht zu ausreichenden Vorbereitungsmaßnahmen geführt.

Um welche Lernprozesse geht es jetzt?

Aus der aktuellen Pandemie sollte die Lehre gezogen werden, dass Nationalismen keine Lösung sind. Die zeigten sich aber immer wieder, beispielsweise darin, dass man keinen Impfstoff oder keine Impfstoffvorprodukte mehr exportieren wollte. Eine sehr einseitige Diskussion, die auch in der deutschen Öffentlichkeit zu Beginn der Impfkampagne im Vordergrund stand, betraf die Impfstoffmenge. Warum haben wir noch so wenig Impfstoff, warum sind Engländer, Amerikaner und Israelis viel weiter? Bei dem Ziel, möglichst viel Impfstoff für die eigene Nation zu sichern, zu vernachlässigen, dass es auch noch andere Länder auf der Welt gibt, halte ich für gefährlich.

Wie verhält sich Deutschland in der Hinsicht?

Deutschland ist ein im Bereich Global Health sehr engagiertes Land, aber natürlich zwingt die öffentliche Diskussion die Politik in eine bestimmte Richtung. Da wurde eine Art Tabelle erstellt, nach dem Motto „die Engländer sind schon bei 37 Punkten, wir erst bei 25“. Und Afrika taucht in dieser Tabelle gar nicht auf. Das ist wie bei einer Essensausgabe, bei der alle nur darauf schauen, wie voll der eigene Teller ist, während ganz hinten in der Schlange viele Leute stehen, die überhaupt nichts mehr bekommen. Ich finde es erschreckend, dass wir das nicht besser hinbekommen haben, und es ist auch epidemiologisch nicht sinnvoll. Die Devise „None of us will be safe until everyone is safe“ ist vollkommen richtig. Wir befinden uns in einer Pandemie. Solange an vielen Orten der Welt Virusvarianten ausgebrütet werden, sind wir auch hier nicht wirklich sicher. Wir haben also noch viel zu lernen.

Aus der Wissenschaft gab es durchaus Stimmen, die auf eine gleichmäßige Verteilung der Impfstoffe gedrängt haben. Hat die Politik zu wenig auf die Wissenschaft gehört?

Das ist für die Politik sehr schwierig, besonders auch in Deutschland. Ich möchte kein Ministerpräsident sein, der einerseits dafür kritisiert wird, dass er die Regeln des Bundes in seinem Land nicht eins zu eins umsetzt und zur gleichen Zeit angegriffen wird, weil er auf die Besonderheiten seines Bundeslandes keine Rücksicht nimmt. Auf der ganzen Welt muss sich angesichts von Corona das Gefühl durchsetzen, dass wir auf einem relativ kleinen Planeten zusammenleben. Das gilt übrigens auch für die Klimaveränderungen. Es wird uns nichts bringen, wenn wir die Augen verschließen, während Inselstaaten im Pazifik langsam im Wasser versinken, irgendwann kommen die Probleme auch zu uns. Die Erkenntnis, dass wir alle in einem Boot sitzen, muss die Bevölkerung auch den Regierenden signalisieren. Es ist falsch, den Politikern allein die Schuld für eine zu nationale Diskussion zu geben.

Was muss dann jetzt international getan werden? Afrika beispielsweise leidet derzeit immens unter der dritten Welle.

Zum Lernen und Handeln ist es nie zu spät. Wichtig ist, sich den Problemen zu stellen, die während der Pandemie aufgetreten sind. Vor kurzem war ich beim regionalen Treffen des World Health Summit in Kampala, Uganda. Der Präsident von Uganda, Yoweri Museveni, hat drei Punkte genannt, bei denen sich der Westen aus seiner Sicht bislang nicht gut bewährt habe: die mangelnde Solidarität, die Frage der globalen Epidemiologie und drittens die Frage der Strategie. Es ist nicht sinnvoll, Ländern in Afrika das Gefühl zu geben, dass sie sich auf die westlichen Nationen nicht verlassen können. Was also können wir tun? Hier gibt es viele Ansätze und ich maße mir nicht an, den richtigen zu kennen. Aber wir könnten, wenn die Bevölkerung wenigstens einmal komplett durchgeimpft ist, damit anfangen, einen relevanten Prozentsatz des verfügbaren Impfstoffs weiterzugeben. Oder wir bauen eine Fabrik, die nur für afrikanische Länder Impfstoff produziert und in der afrikanische Kolleginnen und Kollegen für die Produktion geschult werden. Ob eine Patentfreigabe wirklich der Schlüssel ist, da bin ich mir nicht sicher. Der Blick auf die Lieferketten von Impfstoffherstellern zeigt, dass Impfstoffe nicht komplett in einem einzigen Land hergestellt werden. Es ist daher nicht leicht sich vorzustellen, dass ein afrikanisches Land, nur weil der Patentschutz freigegeben ist, jetzt plötzlich in der Lage ist, die gesamte Fertigungskette für Covid-Impfstoffe zu realisieren.

Wie schätzen Sie die Impfbereitschaft ein?

Leider ist sowohl in Deutschland als auch weltweit eine gewisse Impfskepsis zu beobachten – und diese Impfskepsis ist in Afrika besonders groß. Das hängt auch mit problematischen Erfahrungen aus der Kolonialzeit zusammen. Deshalb gibt es zum Teil eine tiefverwurzelte Impfskepsis gegenüber den westlichen Impfstoffen. Impfstoffe sollten daher nicht nur als fremde Hilfeleistung platziert werden. Sinnvoller wäre es, für die Impfstoffproduktion von Uganda, Kenia oder anderen afrikanischen Ländern Produktionsstätten in Deutschland aufzubauen, sodass eine aktive Mitwirkung im Prozess möglich wird.

Wie lassen sich die internationalen Anstrengungen weiter intensivieren?

Aus meiner Sicht sind jetzt die Regierungschefinnen und Regierungschefs der westlichen Länder gefragt. Wenn sie die Probleme am Anfang der Pandemie anerkennen und gemeinsam eine energische Kampagne starten, würde dies weltweit eine enorme Wirkung haben und die westlichen Länder bei den derzeitigen Impfquoten auch nicht schädigen. US-Präsident Joe Biden hat gesagt, wir befänden uns in einer Zeit, in der die freiheitlichwestlichen Nationen ihr gesellschaftliches Modell verteidigen müssen. Dem kann ich nur zustimmen.

Kommen wir auf den World Health Summit zu sprechen, der im Oktober stattfindet. Wie ist diese Konferenz angelegt, welche Rolle wird das Thema Corona spielen?

Zunächst einmal handelt es sich um einen Multi-Stakeholder-Gipfel. Wir bringen Menschen aus der ganzen Welt zusammen. Insofern werden viele der Themenvorschläge von unseren Partnern eingebracht. Die Welt braucht Marktplätze für weltbewegende Themen wie Gesundheit. Und Globale Gesundheit lässt sich nur im gemeinsamen Schulterschluss von Bevölkerung, Politik, Medien, Industrie und Akademie adressieren.

Der World Health Summit hat zum Ziel, die richtigen Themen zu setzen, um Probleme sichtbar zu machen, zu adressieren und zu neuen Lösungen zu kommen. In diesem Jahr ist sicherlich Corona das Hauptthema. Doch im globalen Süden sind keinesfalls nur die Infektionskrankheiten ein Problem. Gerade nicht-übertragbare Krankheiten – die typischen Zivilisationskrankheiten wie Herz-Insuffizienz, Krebs, Diabetes, chronische Atemwegserkrankungen und Übergewicht – sind stark auf dem Vormarsch. Auch Themen wie Gender und Versorgungsgerechtigkeit stehen auf dem Programm.

Lassen sich die Ideen der Konferenz auch in die Praxis umsetzen?

Der World Health Summit hat sich in gut zehn Jahren auf einem Niveau entwickelt, das es erlaubt, Diskussionen zu fördern, Themen zu platzieren und damit als Katalysator für Entwicklungen zu wirken. Wir sind aber nicht selbst Handelnder.

Gewinnt Global Health immer mehr an Bedeutung?

In Deutschland nimmt die Bedeutung von Global Health, also die Suche nach Lösungen für weltweite Gesundheitsprobleme, eindeutig zu. Daran hat Bundeskanzlerin Angela Merkel einen großen Anteil – Deutschland übernimmt wieder zunehmend Verantwortung für Themen, die auf einem humanistischen Weltbild aufbauen, und ist eine wesentliche Stütze der Weltgesundheitsorganisation. Die World Health Organisation (WHO) eröffnet noch in diesem Jahr in Berlin ein Büro mit dem Ziel, die Fähigkeiten der WHO und der Nationen bei der Vorbereitung und Reaktion auf Epidemie- und Pandemierisiken zu erweitern und zu verstärken. Die WHO ist unverzichtbar wie die Weltbank oder das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, sprich UNICEF, aber sie benötigt eine breite politische Unterstützung.

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