Interview mit Irene Maier, Vizepräsidentin des Deutschen Pflegerats

„Wir müssen die Berufsflucht in der Pflege bremsen“

Fehlende Pflege(fach)kräfte setzen der Pflege zu. Durch die Corona-Pandemie hat sich die Situation in der Pflege verschärft. ersatzkasse magazin. spricht mit der Vizepräsidentin des Deutschen Pflegerats, Irene Maier, über die aktuelle Situation der Pflegekräfte in Deutschland.

Irene Maier, Vizepräsidentin des Deutschen Pflegerats

Streiks in der Charité und bei Vivantes in Berlin, neue Kündigungswellen in der Zeit von Corona. Schon lange reden wir über die kritische Situation in der Pflege – im Krankenhaus wie auch in der ambulanten und stationären Altenpflege. Was sind die Ursachen?

Irene Maier: Die Entwicklung, dass mehr und mehr Pflegekräfte fehlen, hat schon vor einigen Jahren begonnen und verschärft sich nicht zuletzt durch den demografischen Wandel. Ursachen sind die harten Arbeitsbedingungen in der Pflege, Schichtdienste, Unterbesetzung in den Stationen und Einrichtungen, die schlechte Entlohnung insbesondere in der Altenpflege. Pandemiebedingt hat sich diese Pflegesituation noch einmal verschärft durch mehr krankheitsbedingte Ausfälle und fehlende Entlastung durch Angehörige. Hinzu kam in den Krankenhäusern einerseits die Zunahme von Corona-Erkrankten auf den Intensivstationen, andererseits aber nicht ausreichend geschultes Personal für diese Intensivbereiche. Die Pflegenden wurden daher in Kurzzeitschulungen für den Intensivbereich vorbereitet. Im Eiltempo wurden Teams zusammengestellt, in denen jeweils eine erfahrene Kraft die anderen Teammitglieder anlernte. Für alle Beteiligten war das hochbelastend, denn sie haben eine hohe Verantwortung gegenüber denjenigen, die von ihnen abhängig sind.

Welche Sorgen und Nöten setzen den Pflegenden besonders zu?

Sie sind erschöpft und resigniert, weil sich an der Pflegesituation nichts ändert. Gerade in der Pandemie war und ist die Pflege unter einem Brennglas. Aber die allgegenwärtige Zuschreibung „systemrelevant“ ist verbraucht. Ein Beruf wurde für systemrelevant erklärt, ohne an den Rahmenbedingungen ernsthaft etwas zu ändern. Dieser Widerspruch ist in der Pflege angekommen und wenn tatsächlich das eintritt, was eine Befragung der Berufsverbände zeigt, dass nämlich bis zu 30 Prozent der Pflegenden sich für einen Berufswechsel entscheiden könnten, dann wäre das dramatisch.

Wie sehen die Prognosen zur Entwicklung der Pflegekräftezahl aus?

Hochrechnungen von statistischen Zahlen aus der Landespflegekammer in Rheinland-Pfalz zeigen, dass in den nächsten zehn bis zwölf Jahren bundesweit 500.000 Pflegefachpersonen bundesweit in den Ruhestand gehen werden. Hinzu kommen 240.000 Vollzeitkräfte, die in Krankenhäusern und der Langzeitpflege bereits jetzt fehlen. Dies ist eine gigantische Zahl. Vor dem Hintergrund einer älter werdenden Bevölkerung, der Zunahme von chronisch Kranken und des hiermit verbundenen Pflegebedarfs würde ich sogar von einem bevorstehenden Kollaps sprechen.

Dennoch hat es eine Reihe von politischen Maßnahmen gegeben, um die Personalsituation in den Krankenhäusern zu verbessern. Im Rahmen von Pflegestellen-Förderprogrammen des Krankenhausstrukturgesetzes und Pflegepersonal-Stärkungsgesetzes sind von 2016 bis 2019 finanzielle Mittel in Höhe von 1,1 Milliarden Euro geflossen. Und seit 2020 wird jede Pflegestelle am Bett vollständig durch die gesetzlichen Krankenkassen finanziert. Müssen sich daher die Klinikträger den Vorwurf gefallen lassen, die Mittel nicht richtig eingesetzt zu haben?

Eindeutig, Sie sprechen den entscheidenden Punkt an. In den letzten Jahren war es tatsächlich so, dass es Geld für das ganze Haus gab und die Verteilung innerhalb des Hauses erfolgte, also zum Beispiel mehr Ärzte statt Pflegekräfte eingestellt wurden. Die Personalproblematik reicht aber viel weiter zurück, nämlich bis in Anfänge der 1990er-Jahre, als über 50.000 Stellen aus ökonomischen Gründen abgebaut wurden. Diesen Abbau, der nicht mit einem gleichzeitigen Bettenabbau einherging, können wir nicht rückgängig machen. Das Pflegebudget, das durch das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz aus den DRGs ausgegliedert wurde, sollte den Abbau eigentlich bremsen. Aber was ist der Ansatz beim Pflegebudget? Es wird nicht das bezahlt, was die Gepflegten dringend benötigen, sondern nur das Allernotwendigste, weil mehr Personalkapazität nicht zur Verfügung steht. Das kritisieren wir als Deutscher Pflegerat. Alle Pflegeverbände sind sich darin einig, dass wir einen Personalbemessungsansatz brauchen, der sich wirklich am Bedarf der erkrankten Personen ausrichtet

Seit Januar 2021 wurden vom Gesetzgeber Personaluntergrenzen (PpUG) eingeführt. Ein sinnvolles Instrument?

Ja, diese Untergrenzen gelten für fast alle Krankenhausbereiche. Sie bilden eine rote Linie, das heißt, die Krankenhausleitung muss reagieren, wenn die einzelnen Schichten nicht mehr mit der Anzahl von Pflegenden besetzt werden können, wie sie die Patientenzahl erforderlich macht. Ein grundsätzlich richtiger Ansatz, aber in der Theorie müssten weniger Patienten auf den Stationen sein, wenn nicht ausreichend Personal vorhanden ist. Mathematisch hört sich das einfach an, aber in Wirklichkeit ist das nicht der Fall, weil sich die Patienten ja bereits auf den Stationen befinden. Daher wird Personal aus anderen Abteilungen verschoben, um die Untergrenzen zu gewährleisten, weil die Nichteinhaltung sanktionsbewehrt ist. Es hat sich ein regelrechtes „Nomadentum“ entwickelt.

Noch ein Blick in die stationäre Altenpflege. Beispielsweise ist die Zahl des Pflegeheimpersonals von 621.392 (2009) auf 769.489 Personen im Jahr 2019 gestiegen. Durch die in der Konzertierten Aktion Pflege (KAP) vorgesehenen Maßnahmen, zum Beispiel die Ausbildungsoffensive Pflege (2019– 2023), die Einführung eines Personalbemessungsverfahrens in der vollstationären Pflege und die Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Pflege, soll dieser Trend verstärkt werden. Das ist doch ein richtiger Weg.

Es ist ein richtiger Weg, mehr Ausbildungskapazität zu schaffen und aktiv für den Beruf zu werben. Es war ebenfalls ein richtiger Schritt, in der Vergütung die Tarifbindung fixiert zu haben. Gerade die finanziellen Unterschiede in der höheren Vergütung im Krankenhaus und der Langzeitpflege haben eine Sogwirkung für viele Pflegefachkräfte aus dem Langzeitbereich erzeugt, die nochmal zur weiteren Verknappung beigetragen haben. Die Gehälter müssen hier auf ein gleiches Niveau angepasst werden. Die vollständige Umsetzung der Personalbemessung in der vollstationären Pflege dauert viel zu lange. Wir fordern, dass im Jahr 2024 eine bundesweite Anwendung und Finanzierung erfolgt.

Der Schlüssel liegt also in der Gewinnung neuer Pflegekräfte. Wie gelingt es unter den beschriebenen Bedingungen, das Interesse am Pflegeberuf  zu stärken? Ein Weg wurde in der generalistischen Ausbildung gesehen. Also die Zusammenlegung der Krankenpflege und Altenpflege – ein Erfolg?

Ich bin mir sicher, dass dies der richtige Ansatz ist. Im internationalen Vergleich ist es längst Standard, in allen Pflegebereichen auszubilden. Deutschland mit seinem gegenwärtig sehr undurchlässigen Versorgungssystem hat hier einigen Nachholbedarf. Es geht darum, Fähigkeiten zu entwickeln, die die Pflegenden in die Lage versetzen, Kinder, alte Menschen oder Akutkranke zu versorgen. Angefangen vom Krankenhaus, über das Altenheim, den ambulanten Pflegedienst und die Rehakliniken müssen wir die Strukturen anders denken.

Ein Beispiel?

Im Altenheim gibt es viele Menschen, die an unterschiedlichsten Krankheiten leiden. Dazu gehören neben Demenz auch Diabetes, Wundheilungsstörungen, Bluthochdruck und Schlaganfall. Oft werden die Erkrankten für die Versorgung ins Krankenhaus verlegt, weil die Kompetenz bei den in Altenheimen tätigen Pflegekräften dafür nicht im ausreichenden Maße vorhanden ist. Wenn sie dort versorgt wurden, werden sie wieder zurückverlegt. Diese Verlegungstouristik stellt eine hohe Belastung für die Betroffenen dar. Das lässt sich mit einer anderen Ausbildungskompetenz vermeiden, die Pflegekräfte in die Lage versetzt, kranke Personen, die im Altenheim leben, auch dort zu versorgen.

Gibt es weitere Hebel bei der Pflegeausbildung?

Sinn, Erfüllung, Menschen zu unterstützen – dies ist die Hauptmotivation für junge Leute, sich für den Pflegeberuf zu entscheiden. Die Rahmenbedingungen sind auch nicht schlecht, die Ausbildungsvergütung ist akzeptabel. Aber es gibt leider eine hohe Abbrecherquote. Die Auszubildenden erleben einen großen Kontrast zwischen Theorie und Praxis. Dies ist der Tatsache geschuldet, dass nicht in allen Settings der Pflege genügend Mitarbeitende in der Versorgung vorhanden sind und damit auch die Zeit für eine gute Praxisanleitung fehlt. Daher müssen wir einen Rahmen schaffen, der die angehenden Pflegekräfte gut begleitet. Das Gleiche gilt für das examinierte Personal. Wenn wir es nicht schaffen, die vorhandene Berufsflucht zu bremsen, dann wird sie nicht aufzuhalten sein. Was wir brauchen, ist der verlässliche Aufbau und die Finanzierung des Personals.

Stichwort ausländische Fachkräfte: Sind sie ein Teil der Lösung des Fachkräfteproblems? Gerade für die Altenpflege wird gefordert, dort mehr Assistenzkräfte einzusetzen.

Wir lösen das Problem der mangelnden Fachkräfte in Deutschland nicht allein über die ausländischen Fachkräfte. Aber wir benötigen sie schon. Wenn wir sie anwerben, müssen wir bezüglich der Deutschkenntnisse auf dem entsprechenden Sprachlevel bestehen, damit das Arbeiten überhaupt möglich ist. Beim Einsatz ausländischer Fachkräfte erleben wir unterschiedliche Erfolge. Es gibt Pflegefachkräfte, die nach einem Jahr wieder in ihr Heimatland gehen, weil sie mit dem deutschen System nicht zurechtkommen, oder in anderen Ländern Aufgaben, Strukturen und Kompetenzen suchen, die ihnen attraktiver erscheinen. Daher gilt es, sie hierzulande sprachlich zu qualifizieren, mit dem System vertraut zu machen und ihnen hier das Einleben zu erleichtern. Wenn diese drei Säulen zusammenspielen, dann gelingen solche Integrationskonzepte und dann werden die Mitarbeitenden, die aus dem Ausland kommen, auch längerfristig in Deutschland bleiben.

Kommen wir zu der im Sommer verabschiedeten „Kleinen Pflegereform“. Wie bewerten Sie diese Maßnahmen? Die bessere Entlohnung durch die Tarifbindung für Altenpflegeheime dürfte in Ihrem Sinne sein. Aber in dem Moment, wo höhere Tarife bezahlt werden, könnten auch die Eigenanteile für die Pflegebedürftigen wieder steigen. Ein Dilemma?

Die finanzielle Beteiligung für Pflegebedürftige braucht auf jeden Fall eine Deckelung. Aber die höheren Gehälter für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Pflege kann es nur geben, wenn die Pflegebedürftigen und deren Angehörige die Kosten hierfür nicht tragen müssen. Es muss daher eine Umkehr geben in dem Sinne, dass ein Sockelbetrag für die pflegebedürftigen Menschen fixiert wird und die weiteren Kosten anders verteilt werden. Wir brauchen in der Versorgung auch eine Steuerfinanzierung, wie es in anderen Ländern in Europa der Fall ist. Wenn die Qualität in der Pflege auf einem hohen Niveau bleiben soll, wird das nicht über den Beitrag allein zu stemmen sein.

Also muss noch mal nachgelegt werden durch die neue Bundesregierung?

Ja, es muss mehr dafür getan werden, dass wir eine Verbesserung in der ambulanten Versorgung erreichen. Wenn die Menschen länger in Selbstständigkeit zu Hause leben können, wird das System auf jeden Fall entlastet. Es gehört aber auch dazu, das Gesundheitssystem zu reformieren. Zum Beispiel durch den Aufbau primärer Gesundheitszentren, den Einsatz akademisch qualifizierter Community Health Nurses, die es in anderen Ländern längst als eine Säule in der Versorgung gibt und die dabei unterstützt, dass Menschen länger ein selbstbestimmtes Leben in häuslicher Umgebung führen können. Hier werden notwendige und sinnvolle strukturelle Veränderungen leider nicht politisch aufgenommen, obwohl dies unsererseits eine lange bestehende Forderung ist.

Und wie sieht es bei der häuslichen Pflege aus? Ein Urteil des Bundessozialgerichts zu Mindestlöhnen bei ausländischen Betreuungskräften hat kürzlich eine neue Diskussion entfacht. Wer kann sich künftig noch diese Art von häuslicher Pflege leisten?

Beim Urteil zur häuslichen Betreuung geht es auch um eine bessere Bezahlung – in diesem Fall für die ausländischen Betreuungskräfte. Andersherum muss auch hier gefragt werden: Ist das leistbar? Wenn in Deutschland die von 300.000 bis 500.000 Betreuungskräften aus dem Ausland geleistete 24-Stunden-Pflege nicht mehr bezahlbar ist, dann muss eine andere Versorgungsstruktur aufgebaut und anders finanziert werden. Das heißt, wir brauchen erheblich mehr Personal in der ambulanten Versorgung, denn auch hier fehlen viele Kräfte. Wir brauchen mehr Kurzzeitpflege, Tagespflege, weil das Angebote sind, die die Versorgung in der häuslichen Umgebung anders unterstützen. Gefragt werden muss dabei, wie die ambulante Pflege vergütet wird und welche Rahmenbedingungen sie hat. Die ambulante Pflege ist in der politischen Diskussion überhaupt kein Thema. Es wird über Krankenhauspflege und Langzeitpflege gesprochen, über häusliche Pflege – und was die finanzielle Unterstützung anbelangt. Aber die Probleme in der ambulanten Versorgung werden kaum thematisiert.

Wie lauten Ihre konkreten Forderungen an die neue Bundesregierung bezüglich der ambulanten Pflege?

Wir brauchen auch eine Personalbemessung für den ambulanten Bereich, also nicht nur für den Krankenhausbereich und die Langzeitpflege. Auch hier stellt sich die Frage der Finanzierung. Wir benötigen eine Reform und keinen Flickenteppich von Einzelmaßnahmen – das fordern wir als Pflegerat seit Langem und das gilt auch für die ambulante Versorgung. Die Probleme in der Pflege anzugehen, wird auf jeden Fall eine zentrale Herausforderung für neue Bundesregierung.

Weitere Artikel aus ersatzkasse magazin. (5. Ausgabe 2021)