Erwartungen an Bundesregierung

Ringen um die Zukunft der Pflege

Mehr als jeder zweite Wähler hat in einer Civey-Umfrage im September angegeben, dass Gesundheit und Pflege für ihn relevante Themen für die Wahlentscheidung waren. Die neue Bundesregierung steht nun vor der gewaltigen Aufgabe, diese Erwartungen einzulösen. Daran führt kein Weg mehr vorbei. Wer das bestehende System einfach weiterlaufen lässt, riskiert den Kollaps.

Symbolbild: Zukunft der Pflege

Es ist noch gar nicht so lange her, da gab es viel Beifall für Pflegekräfte. Abgeordnete applaudierten im Bundestag, um den aufopfernden Einsatz in der Pflege während der Corona-Pandemie zu würdigen. Der Beifall ist verhallt, aber nicht vergessen. An ihn haben hunderttausende Fachkräfte, pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen die Erwartung geknüpft, dass sich tatsächlich etwas zum Besseren wendet. Tatsache ist, dass die Pflege mehr und mehr Aufgaben schultern muss. Es ist ja nicht nur so, dass die Menschen immer älter werden und deswegen auch mehr Pflege benötigen. Auch der Lebensalltag ändert sich. Etwa, weil Angehörige nicht mehr nebenan, sondern in einer anderen Stadt oder möglicherweise gar in einem anderen Land wohnen und sich nur noch aus der Ferne um ihre pflegebedürftigen Liebsten kümmern können. Hinzu kommen ein gewaltiger Fachkräftemangel bei gleichzeitig niedrigen Löhnen in der Altenpflege und ein Eigenanteil für Angehörige, der mit durchschnittlich mehr als 2.000 Euro pro Monat für viele schmerzhaft hoch ist.

Auch die scheidende Regierung ist mit einem Reformvorhaben angetreten. Durch unterschiedliche Interessenlagen im Finanz-, Gesundheits- und Arbeitsministerium wurde daraus allerdings nur ein „Reförmchen“, wie es in Berlin verächtlich heißt. Ab 2022 fließt per Gesetz ein Milliardenzuschuss aus der Staatskasse ins System, um die wachsenden Ausgaben zu schultern. Außerdem müssen kinderlose Versicherte einen höheren Beitrag zahlen. Ob das Geld aber reicht, um die damit verbundenen Mehrausgaben wie höhere Löhne und einen niedrigeren Eigenanteil zu finanzieren, steht auf einem anderen Blatt. Schon in diesem Jahr musste der Bund mit zusätzlichen Milliarden die Pflegekassen vor der Insolvenz retten, künftig wird das bestehende System ohne den Staatstropf nicht mehr existieren können. Noch gar nicht eingepreist sind die teils teuren Wahlversprechen der Parteien – oder das, was in einer neuen Koalition davon übrig bleibt. Denn hier gibt es viel Konfliktpotenzial.

Die SPD fordert etwa einen allgemein verbindlichen Branchentarifvertrag und will den Eigenanteil – wie die Grünen – für kleinere und mittlere Einkommen deckeln. Beide Parteien fordern außerdem eine Pflegevollversicherung, in die alle Einkommensgruppen einzahlen. Alleine schon diese beiden Punkte sind gewaltige Vorhaben, die mit einem möglichen Koalitionspartner, der FDP, nicht leicht umsetzbar sind. Die Einheitsversicherung ist eine rote Linie für die Liberalen. Die SPD nimmt sich auch deutlicher als andere Parteien die „Kommerzialisierung im Gesundheitswesen“ vor, die sich negativ auf die Arbeitsbedingungen auswirke. Gewinne, die aus Mitteln der Solidargemeinschaft erwirtschaftet werden, sollen nach dem Willen der Sozialdemokraten weitestgehend wieder in das Gesundheitssystem zurückfließen. Die Grünen wollen darüber hinaus die 35-Stunden-Woche für Pflegekräfte. Auch diese beiden Themen sind den Liberalen fremd. Jetzt rächt sich, dass die Pflege weitestgehend aus dem Wahlkampf ausgeklammert wurde. Der öffentliche Streit um die besten Ideen vor den Wahlen hätte die Sondierungen hinter verschlossenen Türen sicher entschärft.

Hoffnung hingegen macht, dass fast alle Parteien die Digitalisierung und Robotik nutzen wollen, um den Pflegeberuf attraktiver zu machen. Während der Coronakrise wurden die Missstände bei diesem Thema überdeutlich. In vielen Pflegeheimen gab es nicht einmal Internet, wenn Angehörige während des Besuchsverbots mit ihren pflegebedürftigen Verwandten per Video telefonieren wollten. In Zukunft müssen in der Pflege aber ganz andere Dinge möglich sein: von der digitalen Falldokumentation und der medizinischen Überwachung von Patienten aus der Ferne über eine Sturzanalyse per künstlicher Intelligenz bis hin zur medizinischen Überwachung in der ambulanten Versorgung aus der Ferne. Diese Vorhaben klingen wie Zukunftsmusik, vor allem dann, wenn sie nicht nur in modernen Großstadt-Häusern, sondern auch im ländlichen Raum umgesetzt werden sollen. Sie müssen aber selbstverständlich sein in der Pflege, wenn die gewaltigen Aufgaben gelöst werden sollen. Immerhin gibt es in Deutschland eine ganze Reihe von Start-ups, die auf diesem Feld mit Innovationen auf den Markt drängen.

Da verwundert es nicht, dass manche im Gesundheitswesen mit digitalpolitischen Sorgen auf die künftige Regierung blicken. Trotz der Defizite: In dieser Legislatur ist das Gesundheitswesen digitaler geworden als in den vergangenen zwei Dekaden zusammen. Die elektronische Patientenakte (ePA) und das eRezept werden schrittweise eingeführt, die Krankenkassen erstatten die App auf Rezept, und Krankenhäuser sowie Gesundheitsämter erhalten Milliarden für die Digitalisierung. Das liegt nicht nur an der Coronakrise, sondern auch an Minister Jens Spahn (CDU), der mit vielen Gesetzen die technisch rückständige Gesundheitsbranche aufschreckte. Die Sorge ist jedoch groß, dass das Tempo nach der Bundestagswahl verloren geht und die angestoßenen Projekte wieder versanden. Wenn der Applaus für die Pflegekräfte ernst gemeint war, darf auch das nicht passieren.

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