Interview mit Claudia Moll, Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung

„Gute Pflege darf nicht arm machen“

Seit Mitte Januar 2022 ist Claudia Moll Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung. Als examinierte Altenpflegerin macht sie sich schon seit vielen Jahren für die Pflege stark. Im Interview spricht sie über die Herausforderung, mehr Pflegepersonal zu gewinnen, über Wertschätzung und Entlastung und darüber, was gute Pflege ausmacht.

Pflegebevollmächtigte Claudia Moll am Telefon

Sie haben viele Jahre als Altenpflegerin gearbeitet, bevor Sie 2017 in die Politik gegangen sind. Was hat Sie bewogen, sich auch politisch für die Pflege zu engagieren?

Claudia Moll: Ich bin nicht morgens aufgewacht und habe gedacht, jetzt kandidiere ich für den Bundestag. Das hat sich langsam entwickelt. Politisch engagiert bin ich von Kind auf, wurde mit Gewerkschaften sozialisiert, war schon immer auf kommunaler Ebene politisch aktiv und so kam eins zum anderen. Ich weiß noch, dass ich mal einen furchtbaren Spätdienst hatte und mir danach gesagt habe, so geht es nicht weiter. Allerdings war Pflege zur der Zeit kein großes Thema in der Politik, also habe ich mir gesagt, das musst du jetzt selbst machen.

Wie erklären Sie sich, dass Pflege wenig relevant war?

Die Menschen in der Pflege haben sich nicht so stark geäußert, wie es erforderlich gewesen wäre. Von außen betrachtet hat das System ja auch immer wunderbar funktioniert. Als Pflegekraft ist man außerplanmäßig eingesprungen, länger geblieben, früher gekommen, klappt ja. Probleme wurden nicht thematisiert und wenn doch, dann wurden die Pflegekräfte nicht gehört.

Ist das heute anders?

Die Pflegekräfte sind lauter geworden und kommen häufiger zu Wort. Das ist gut. Was mich aber immer wieder stört, ist, dass viele den Beruf so schlecht reden, auch Pflegekräfte selbst. Mit Sicherheit müssen wir da viel machen, aber vieles ist auch gut. Wenn man in den Medien immer nur Negativschlagzeilen hört, ist das ein Schlag ins Gesicht derer, die morgens hochmotiviert zur Arbeit gehen. Haben Sie schon mal eine Talkshow gesehen, in der drei Pflegekräfte sitzen und berichten, wie toll es doch ist, in dem Beruf zu arbeiten? Es geht auch kein Pflegebedürftiger zu „Hart aber fair“ und erzählt, wie gut er im Pflegeheim versorgt wird und wie schön es ist, nicht mehr allein in der Wohnung zu sitzen. Bei all der negativen Berichterstattung hätte ich auch Angst, pflegebedürftig zu werden.

Im Herbst 2020 haben Sie das Papier „Gute Pflege – Machen“ vorgelegt. Was macht gute Pflege aus?

Gute Pflege muss heißen: gut für die Angehörigen, gut für Pflegebedürftige und Patienten und gut für die Pflegenden. Wichtig ist, dass gute Pflege nicht arm machen darf, auch die Pflegenden nicht. Abgesehen von der Bezahlung der Pflegekräfte kommt es mir auf Wertschätzung an. Natürlich gibt es viele Einrichtungen, in denen gute Pflege funktioniert, in denen es beispielsweise eine funktionierende Dienstplangestaltung gibt, eine alleinerziehende Mutter nicht den Spätdienst übernehmen muss, Wochenenddienste gerecht verteilt sind und ‚frei haben‘ auch frei haben bedeutet. Aber unbestritten ist ja auch, dass es an Personal in der Pflege fehlt. In der Studie zur Personalbedarfsbemessung wurde ein Mehrbedarf von 36 Prozent allein in der vollstationären Pflege nachgewiesen. Gute Pflege bräuchte also schon heute ein Drittel mehr Personal – darum gibt es ja vielerorts die kaum mehr zu stemmende Arbeitsverdichtung. Das muss sich und werden wir rasch ändern.

Trägt die 2018 ins Leben gerufene Konzertierte Aktion Pflege (KAP) dazu bei, die Zahl der Beschäftigten in der Pflege zu erhöhen?

Bei der KAP muss man das Gesamtkonstrukt sehen, da geht es um die Verbesserung der Rahmenbedingungen insgesamt für in der Pflege tätige Menschen. Die gute Nachricht ist, dass die Ausbildungszahlen hoch gehen. Waren es 2015 noch etwa 49.000, haben in 2020 knapp 57.300 Azubis ihre Pflegeausbildung begonnen. Damit dieser positive Trend auch nachhaltige Verbesserungen in der Pflege entfalten kann, brauchen wir bessere Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen. Meine Mutter hat immer gesagt: Lehrjahre sind keine Herrenjahre. Aber Ausbildung muss immer Ausbildung sein. Es braucht eine qualifizierte Praxisanleitung und das Selbstverständnis, dass Auszubildende keine billigen Hilfskräfte sind. Sonst werden diese Menschen nicht in der Pflege bleiben.

Welche Rolle spielt das Pflegeberufegesetz mit Blick auf den Anstieg der Ausbildungszahlen?

Die Ausbildung in der Pflege erfolgt seit 2020 auf der Grundlage des Pflegeberufegesetzes. Dieses sieht unter anderem eine generalistische Ausbildung und Akademisierung vor. Ich finde es positiv, dass die jungen Menschen sich damit ausprobieren können. In der Pflege muss man nicht bei Ausbildungsbeginn genau wissen, wohin der Weg führen soll. Auch was die Akademisierung betrifft, das kann ja jeder selbst entscheiden, ein Studium ist nicht verpflichtend und sollte es auch nicht werden. Wer einen Bachelor macht, ist nicht zwangsläufig besser als eine Pflegekraft ohne akademische Ausbildung. Ich kenne Pflegeassistenten, die sind aufgrund ihrer langjährigen Erfahrung besser als examinierte Pflegekräfte und zum Teil auch praxisorientierter. Es wird deshalb in Zukunft noch mehr auf eine sinnvolle Aufgabenverteilung ankommen. Und klar ist auch: Wir brauchen nicht nur akademisierte Kräfte, gerade in der Langzeitpflege ist der Bedarf an Pflegeassistenten hoch.

Im Zuge des 2019 in Kraft getretenen Pflegepersonal-Stärkungsgesetzes wurde ein Sofortprogramm Pflege mit 13.000 neuen Stellen für Pflegekräfte in vollstationären Pflegeeinrichtungen aufgelegt. Hat das Programm gewirkt?

Im zweiten Monitoring-Bericht zur KAP werden hierzu ausführliche Zahlen angeführt. Per 31. März 2021 konnten von den 13.000 Stellen etwa 4.300 Pflegefachkräfte eingestellt werden. Das verdeutlicht mir, dass es trotz des oft zitierten leergefegten Arbeitsmarktes möglich ist, Stellen zu besetzen. Klar ist aber auch, dass es momentan einfach nicht genug Pflegekräfte gibt, um kurzfristig alle Stellen zu besetzen. Hinzu kommt, dass viele Einrichtungen das Angebot nicht oder zögerlich wahrnehmen, weil das Antragsverfahren so kompliziert ist. Weniger Bürokratie wäre hier schön.

Ein weiteres Instrument zur Verbesserung der Personallage ist das Pflegepersonalbemessungssystem. Was halten Sie davon?

Davon halte ich sehr viel. Was Prof. Dr. Heinz Rothgang, der das System entwickelt hat, hier wissenschaftlich erarbeitet hat, davon rede ich schon seit Jahren. Es geht im Grunde darum, dass man schaut, was das Personal in den einzelnen Pflegebereichen zu tun hat und entsprechend die Tätigkeiten besser aufteilt, sprich dass auch mehr Assistenzkräfte eingesetzt werden. Ich hätte mich damals gefreut, wenn ich eine halbe Assistenzkraftstelle mehr gehabt hätte. Oft scheitert es aber an der landesweiten Fachkraftquote, die pauschal mit 50:50 festgelegt ist. Heißt: Wenn eine Hilfskraft mehr gebraucht wird, muss gleichzeitig auch eine Fachkraft eingestellt werden. Da Fachkräfte jedoch schwerer zu finden sind, wird dann lieber gar nichts unternommen, um die Fachkraftquote für die Behörden einzuhalten. In dem Gutachten von Prof. Rothgang wurde eine sinnvollere Fachkraftquote wissenschaftlich hergeleitet, die eben nicht mehr pauschal 50:50 ist, sondern von der jeweiligen Bewohnerstruktur abhängt. Das System wurde bereits in der letzten Legislaturperiode mit einer sogenannten Roadmap auf den Weg gebracht. Im Koalitionsvertrag ist von einer schnelleren Umsetzung die Rede und das Bundesgesundheitsministerium arbeitet mit Hochdruck daran. Das finde ich richtig.

Dieses System ist für die stationäre Altenpflege gedacht. Ist Ähnliches für die ambulante Altenpflege vorgesehen?

Meines Wissens nach versuchen derzeit Wissenschaftler, zusammen mit der ambulanten Altenpflege, Kriterien für ein entsprechendes System für den ambulanten Bereich herauszuarbeiten, was aber relativ schwierig ist. Denn im ambulanten Bereich bucht jeder Leistungen für sich individuell. Der eine will einmal pro Woche duschen, der andere legt Wert auf etwas Anderes. Die eine erhält viel Unterstützung durch Angehörige, die andere weniger oder gar keine. Deshalb ist der Bedarf an professioneller Pflege bei gleichen Pflegegraden sehr unterschiedlich. Das macht es schwierig, zu einer Vergleichbarkeit zu kommen.

Trägt die Anwerbung ausländischer Fachkräfte zur Lösung des Personalproblems bei?

Wir dürfen natürlich keinem Land Pflegekräfte wegnehmen. Es gibt den WHO-Kodex für ein ethisch korrektes Anwerben von Fachkräften außerhalb Europas, an den sich auch Deutschland hält. Zahlen der Bundesagentur für Arbeit besagen, dass sich der Anteil der Ausländer an den beschäftigten Altenpflegern von acht Prozent in 2015 auf knapp 15 Prozent (91.000 Beschäftigte) in 2020 erhöht hat. Fakt ist, wenn man Fachkräfte anwirbt, muss man auch gute Konzepte auflegen und diese vernünftig integrieren, sonst sind sie morgen wieder weg. Allerdings ist das Verfahren auch nicht einfach. Oft scheitert es an Terminschwierigkeiten seitens der Botschaften, der Anerkennung ausländischer Abschlüsse oder auch an mangelnden Sprachkenntnissen. Hier sehe ich schon noch Verbesserungspotenzial, aber das geht nicht per Knopfdruck.

Sie fordern den Ausbau des Bundesfreiwilligendienstes. Was versprechen Sie sich davon für die Pflege?

Ich bin der Meinung, dass es den Menschen formt, wenn er freiwillig ein Jahr im sozialen Bereich arbeitet. Daher sollten die Freiwilligendienste mehr gefördert und ausgebaut werden, vor allem mit Blick auf Pflege. Das Interesse der jungen Menschen scheint groß zu sein an sozialen Bereichen, aber es gibt offenbar nicht genügend freie Stellen. Die sogenannten Bufdis sind ja keine Pflegekräfte, sie übernehmen keine medizinischen oder pflegerischen Tätigkeiten, sondern sie übernehmen beispielsweise die Begleitung zu Arztbesuchen oder Spaziergängen mit den Bewohnern. Sie können und dürfen Pflegekräfte also nicht ersetzen, aber entlasten sie sehr.

Für Beschäftigte in Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen gilt seit dem 16. März 2022 eine gesetzliche Impfpflicht gegen Covid-19. Verschärft das nochmal das Problem des Pflegepersonalmangels?

Zunächst: Was mich immer ärgert, ist, dass bei der Impflicht oft nur von Pflegekräften die Rede ist. Es sind aber genauso Ärzte mit eingeschlossen, Menschen in der Verwaltung, der IT, im Service und im hauswirtschaftlichen Bereich sowie Reinigungskräfte. Was Pflege betrifft, soweit ich das anhand von Gesprächen beurteilen kann, sind die Pflegekräfte bis zu 96 bis 98 Prozent geimpft, weil diese auch genau gesehen und erlebt haben, was in den Krankenhäusern passiert, wenn jemand nicht geimpft ist. Ich glaube, es wurde insgesamt zu groß aufgehängt. Es gibt bestimmt die eine oder andere Pflegekraft, die gegangen ist, aber das wäre sie vermutlich so oder so.

Wundern Sie sich, dass es überhaupt eine Impfpflicht für Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen geben muss?

Ich hätte nicht diesen Weg gewählt, sondern direkt für eine allgemeine Impfpflicht plädiert. Das schlägt mir auch wirklich auf den Magen, weil so die Menschen, die im Gesundheitsbereich arbeiten und Tag für Tag Enormes leisten, stigmatisiert wurden. Dabei sind nicht sie die Pandemietreiber.

Was steht neben der Gewinnung von Pflegepersonal auf Ihrer Agenda als Pflegebevollmächtigte?

Es gibt viel zu tun! Der Koalitionsvertrag ist ein toller Fahrplan mit ehrgeizigen Zielen. Das müssen wir jetzt angehen. Denn der Druck im Kessel ist hoch. Bessere Arbeitsbedingungen, Personalbemessung, Beteiligung der Pflege in den Gremien, faireren Zugang der Menschen mit Behinderung zu den Leistungen der Pflegeversicherung und bessere Selbstbestimmung durch eine gute, flächendeckende Beratung sind nur einige der Stichworte. Bis hin zur Erfüllung meines Traums einer Pflegeversicherung, deren Leistungen ganz individuell zusammengestellt werden können, ist es ein weiter Weg. Daher werde ich mich zum Beispiel beim Entlastungsbudget dafür einsetzen, dass es mit ausreichend Leistungsmöglichkeiten hinterlegt wird, damit es seinen Namen auch verdient. Wir müssen individuellere Leistungen ermöglichen, um hunderttausende pflegende An- und Zugehörige massiv zu unterstützen. Deshalb sollten wir loslegen, starre Strukturen aufbrechen und neu denken.

Insgesamt zielt der Koalitionsvertrag auf eine Verbesserung der Pflegesituation, etwa durch Steuerzuschüsse und Entlastungen bei den Eigenanteilen. Die richtige Richtung?

Das sind meiner Ansicht nach richtige und wegweisende Maßnahmen, um die Pflegebedürftigen finanziell nicht zu überfordern. Für mich ist wichtig, dass wir in vier Jahren sehen, es hat sich was getan, und zwar in allen Bereichen, in der stationären, ambulanten oder auch familiären Pflege und im Behindertenbereich. Aber dafür muss eben auch Geld in die Hand genommen werden – ohne wird es nicht gehen.

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