Forderungspapier

Für eine gute psychotherapeutische Versorgung

In Deutschland besteht ein weltweit einzigartiges psychotherapeutisches Versorgungssystem mit direktem Zugang und ohne Zuzahlung durch die Versicherten. Doch existiert auch hier die viel zitierte Über-, Unter- und Fehlversorgung. Daher ist es zwingend erforderlich, eine Debatte über Effizienzreserven innerhalb des Systems zu führen. Die Ersatzkassen haben hierzu ein entsprechendes Forderungspapier entwickelt.

Illustration: Psychotherapie

Über 38.000 niedergelassene ärztliche und psychologische Psychotherapeut:innen sind in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) tätig, übertroffen wird diese Zahl nur von den Hausärzt:innen. Abhängig vom Therapieverfahren werden bis zu 300 Stunden Therapie pro Patient:in übernommen. Psychotherapeut:innen werden zudem in der GKV meist besser vergütet als in der privaten Krankenversicherung, auch der Leistungsumfang ist oft deutlich größer.

Dennoch warten Patient:innen zum Teil mehrere Monate auf einen Therapieplatz – auch wenn etwa 80 Prozent der Versicherten laut einer Versichertenbefragung des GKV-Spitzenverbandes einen ersten Termin bei einer Psychotherapeutin oder einem Psychotherapeuten innerhalb von vier Wochen erhalten. Die Lösung der Wartezeitenproblematik ist aus Sicht der Psychotherapeutenkammern und Psychotherapeutenverbände seit über 20 Jahren unverändert: mehr Psychotherapeut:innen, mehr Geld und mehr berufliche Freiheiten. Qualitätssicherung ist ihnen zufolge nur ein bürokratisches Hindernis, strukturelle Debatten werden als überflüssig und irreführend abgetan.

Doch mehr Psychotherapeut:innen werden weder dazu führen, dass psychisch schwerkranke Versicherte schneller behandelt werden, noch dass Psychotherapeut:innen endlich ihre Praxisstruktur und ihre Terminvergabe professionalisieren oder mehr Gruppentherapie anbieten. Stattdessen muss an anderen Stellschrauben gedreht werden, wie auch das Forderungspapier des vdek verdeutlicht.

Stärkere Orientierung am Versorgungsbedarf

Innerhalb des psychotherapeutischen Versorgungssystems sind vier Richtlinienverfahren anerkannt, die sich deutlich in ihrem Leistungsumfang unterscheiden. Die Systemische Therapie umfasst ein maximales Kontingent von 48 Stunden, die Verhaltenstherapie 80 Stunden, die tiefenpsychologisch fundierte Therapie 100 Stunden und die analytische Therapie 300 Stunden.

Die Psychotherapeut:innen dieser Verfahren verteilen sich allerdings nicht gleichmäßig über das Bundesgebiet, zudem gibt es regional deutliche Schwerpunktsetzungen. Im Ergebnis kann die Regionen unterschiedlich viele Versicherte behandeln (s. Abb.).

Infografik_Verteilung_Therapieverfahren

Diese regional unterschiedliche Verteilung der Psychotherapieverfahren ändert sich im Zeitablauf nur geringfügig. Gibt es auf einen frei werdenden Kassensitz mehrere Bewerber:innen, entscheiden sich die Zulassungsausschüsse in der Regel für eine:n Vertreter:in des gleichen Verfahrens, das von der ausscheidenden Psychotherapeutin oder dem ausscheidenden Psychotherapeuten praktiziert wurde. Neu in die Versorgung kommende Verfahren wie die Systemische Therapie haben es schwer, Fuß zu fassen. So wurden im 1. Quartal 2021 nur etwa 0,02 Prozent aller Psychotherapieleistungen in der Systemischen Therapie erbracht. Hier braucht es gesetzliche Regelungen, nach denen sich die Nachbesetzung stärker am Versorgungsbedarf zu orientieren hat. Neuen Verfahren ist dabei zunächst Vorrang bei der Nachbesetzung einzuräumen.

Forderungen zur Bedarfsplanung

  • bei Nachbesetzungen Vorrang der Erfordernis der regionalen Versorgung bei Wahl des Therapieverfahrens anstelle der Praxishistorie
  • bevorzugte Berücksichtigung von Therapieverfahren mit einer höheren Versorgungskapazität bei der Nachbesetzung
  • Schaffung einer Rechtsgrundlage, damit die Systemische Therapie bei Nachbesetzungen solange bevorzugt werden kann, bis ihr Anteil an der Versorgung mindestens das Niveau des zweitkleinsten Therapieverfahrens erreicht hat

Verbesserung der Vermittlung von Therapieplätzen

Die regionalen Terminservicestellen (TSS) der Kassenärztlichen Vereinigungen sollen in die psychotherapeutische Sprechstunde, in die Akutbehandlung und Probatorik vermitteln. Voraussetzung dafür ist, dass in der Sprechstunde eine Dringlichkeit der Behandlung attestiert wurde. In der Praxis funktioniert das unterschiedlich gut. Die Ersatzkassen erhalten regelmäßig – regional unterschiedlich – Rückmeldungen von Versicherten über schlechte Erreichbarkeiten von TSS und fehlende Vermittlungsmöglichkeiten. Die TSS wiederum beklagen, dass sie nicht genug Behandlungskapazitäten von Psychotherapeut:innen gemeldet bekommen. Es gibt auch einzelne TSS, die eine Vermittlung in die Probatorik verweigern oder ad absurdum führen, indem von vornherein nur in eine einzelne Probatorikstunde vermittelt und damit im Vorfeld eine weitere Behandlung ausgeschlossen wird. Für Patient:innen stellt dies eine erhebliche emotionale Belastung dar, da sie nach der Probatorikstunde erneut eine:n Psychotherapeut:in suchen müssen. Die Psychotherapeut: innen wiederum melden ungerne durch beendete Therapien frei werdende Kapazitäten an die TSS, weil sie lieber selbst entscheiden möchten, wen sie behandeln. Patient:innen mit akutem Behandlungsbedarf können dadurch nicht vermittelt werden.

Hier zeigt sich dringender Handlungsbedarf. Die Ersatzkassen haben daher ein Maßnahmenpaket erstellt, das sowohl an die TSS als auch an die Psychotherapeut:innen gerichtet ist. Es soll die Arbeit der TSS verbessern und sicherstellen, dass die TSS mehr Behandlungsplätze gemeldet bekommen.

Forderungen zur Erreichbarkeit und Vermittlung von Therapieplätzen durch die Terminservicestellen (TSS)

  • adäquate personelle Besetzung der TSS unter Berücksichtigung des gestiegenen Vermittlungsbedarfs
  • regelmäßige Veröffentlichung der Erreichbarkeits- und Servicequalität der TSS nach einheitlichen Kriterien analog der im Koalitionsvertrag vorgesehenen Regelung für Krankenkassen
  • Vermittlungsanspruch für einen Therapieplatz anstelle einer einzelnen probatorischen Sitzung verankern
  • Einführung einer Kontrolle der Vermittlungsleistung der TSS und gegebenenfalls Sanktionen, sollten die TSS ihrem Vermittlungsauftrag nicht nachkommen

Forderungen zur Nachbesetzung frei werdender Therapieplätze

  • Verpflichtung, dass Psychotherapeut:innen mindestens 50 Prozent ihrer frei werdenden Therapieplätze um- gehend den TSS zur Vermittlung dringlicher Fälle zur Verfügung stellen. Nicht durch die TSS vermittelte Plätze dürfen weiterhin selbst besetzt werden.
  • das Vorsehen eines Vergütungsabschlags für den Fall, dass Psychotherapeut:innen den TSS weniger Therapieplätze zur Verfügung stellen und die TSS daher dringliche Vermittlungswünsche nicht erfüllen kann
  • Vergütung der bereits bestehenden Zuschläge zu den ersten zehn Stunden zur Kurzzeittherapie nur dann, wenn die Vermittlung in die Therapie über die TSS erfolgt

Sicherung der telefonischen Erreichbarkeit

90 Prozent der Psychotherapeut:innen sind in einer Einzelpraxis tätig, deutlich über die Hälfte haben einen halben Versorgungsauftrag, und die meisten beschäftigen kein Praxispersonal, was zulasten der telefonischen Erreichbarkeit geht. Mit Erreichen eines gewissen Stundenvolumens erhalten Psychotherapeut:innen sogenannte Strukturzuschläge zusätzlich zu den üblichen Psychotherapie-Honoraren. In diesen sind normative Personalkosten für eine sozialversicherungspflichtige Halbtagskraft enthalten, was die Anstellung von Praxispersonal erleichtern soll. Dies wird jedoch kaum genutzt. Dabei schafft eine professionelle Praxisorganisation Kapazitäten für weitere Behandlungen. Es ist nicht nachvollziehbar, dass die Psychotherapeut:innen trotz der finanziellen Förderung von Praxispersonal organisatorische Aufgaben wie die Terminvergabe selbst übernehmen. Einzelpraxen könnten sich auch zusammenschließen und eine gemeinsame Praxisassistenz zur Terminvergabe anstellen oder externe Dienstleister beauftragen. Zudem sind ergänzende digitale Möglichkeiten zur Terminvereinbarung zu begrüßen. Hier setzen die Forderungen der Ersatzkassen an.

Forderungen zur telefonischen Erreichbarkeit der Psychotherapeut:innen

  • Kopplung der Auszahlung der Strukturzuschläge an eine nachweisliche Anstellung einer medizinischen Fachkraft als mindestens Halbtagsstelle
  • verpflichtende, persönliche, nicht durch die Psychotherapeut:innen durchgeführte Terminvergabe, gegebenenfalls durch externe Dienstleister, sofern dort kein Praxispersonal angestellt ist

Stärkung der Fernbehandlung

Telemedizinische Leistungen haben durch die Corona-Pandemie einen Schub erhalten, die Möglichkeiten der Fernbehandlung per Video werden von Psychotherapeut:innen deutlich häufiger angewendet als von anderen Facharztgruppen. Ausgenommen von den Regelungen sind bislang die psychotherapeutische Sprechstunde und die Probatorik. Darüber hinaus sieht die Psychotherapie-Vereinbarung eine grundsätzliche Ortsnähe von Patient:innen und Psychotherapeut:innen vor, was der Fernbehandlung räumliche Grenzen setzt.

Fernbehandlung kann für manche Menschen jedoch eine Chance sein, beispielsweise für mobil eingeschränkte Personen wie pflegende Angehörige oder Eltern mit jüngeren Kindern. Auch in ländlichen Regionen mit zum Teil längeren Anfahrtswegen ermöglicht Fernbehandlung die Durchführung einer Psychotherapie. Auch mit Blick auf die Gruppentherapie bietet sie Vorteile. So benötigen Einzelpraxen keine größeren Räumlichkeiten, zudem kann das Videosetting die Hemmschwelle senken, an einer Gruppe teilzunehmen, und die Bildung von (überregionalen) Gruppen erleichtern. Um für diese Gruppe die Versorgung zu verbessern, sollten die bisherigen Einschränkungen bei der Fernbehandlung wegfallen.

Forderungen zur Fernbehandlung

  • psychotherapeutische Sprechstunde und Probatorik als Videosprechstunde ermöglichen, wenn die Psychotherapeutin/ der Psychotherapeut dies verantworten kann
  • Mengenbegrenzung für Leistungen per Videosprechstunde für psychotherapeutische Behandlungen aufheben
  • überregionale Versorgung mittels Fernbehandlung ermöglichen durch Aufhebung der örtlichen Nähe in der Psychotherapie-Vereinbarung bei hierfür geeigneten Patient: innen
  • Besprechung individuell geeigneter Notfalllösungen im Fall einer akuten Krise
  • Berücksichtigung der Videosprechstunde in der Bedarfsplanungsrichtlinie
  • Veröffentlichung des Angebots des Videosettings auf der Homepage der Kassenärztlichen Vereinigungen
Dieses Angebot eignet sich aber nicht für alle Patient:innen und kann daher nur eine Ergänzung der bisherigen Versorgung sein. Wichtig ist, dass Therapeut:in und Patient:in beide diese Art der Versorgung befürworten und das Videosetting im Einzelfall geeignet ist. Die Qualität der Behandlung und die Sicherheit der Patient:innen stehen an erster Stelle.

Förderung der Gruppentherapie

Gruppentherapie ist genauso wirksam wie Einzeltherapie, jedoch sind nur maximal fünf Prozent aller Psychotherapien Gruppentherapien, trotz vieler Maßnahmen in den vergangenen Jahren, die Gruppentherapie zu fördern. In der (teil-)stationären Versorgung gehört die Gruppentherapie zum Standard, da sie viele Vorteile bietet. Durch ein flächendeckendes Angebot von Gruppentherapien könnten mehr Patient:innen von einer psychotherapeutischen Behandlung profitieren. Eine Gruppe zu organisieren, geht jedoch mit erhöhtem Aufwand einher, den viele Psychotherapeut:innen scheuen. Hier bietet die Digitalisierung neue Möglichkeiten der praxisübergreifenden Koordination zur Bildung von Gruppen, die es stärker zu nutzen gilt. Auch die gezielte Ermächtigung von Psychiatrischen Institutsambulanzen zur Durchführung von Gruppentherapie könnte die Gruppentherapie fördern.

Forderungen zur Gruppentherapie

  • praxisübergreifende, nicht durch Psychotherapeut:innen durchgeführte Terminkoordination für gruppentherapeutische Angebote, gegebenenfalls durch externe Dienstleister, sofern kein Praxispersonal angestellt ist
  • umfassende Befähigung zur Gruppentherapie in der Ausbildung von Psychotherapeut:innen
  • Psychiatrische Institutsambulanzen (PIA) qua Gesetz zur Erbringung ambulanter Gruppentherapie nach Psychotherapie-Richtlinie ermächtigen

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