Pflegereport der DAK-Gesundheit

Die Boomer, die Kipppunkte und die Zukunft der Pflege

Das Ausscheiden der sogenannten Baby-Boomer-Generation verschärft die Situation der beruflichen Pflege in Deutschland massiv. Das zeigt der aktuelle Pflegereport der DAK-Gesundheit. Neben erheblichen Finanzierungslücken in der Pflegeversicherung bedroht die steigende Personalnot zunehmend die Versorgung pflegebedürftiger Menschen.

Symbolbild: Häusliche Pflege

Seit über zehn Jahren lässt die DAK-Gesundheit einen Pflegereport erstellen und widmet sich auf diese Weise einem immer mehr an Bedeutung gewinnenden gesellschafts- und sozialpolitischen Thema. 96 Prozent der Bevölkerung sehen das genauso. Zu leicht gerät das Thema (Langzeit-)Pflege in den Schatten der Gesundheitspolitik. Die DAK-Pflegereporte sind insofern ein Garant dafür, dass relevante Pflegethemen nicht im Souterrain der Sozialpolitik bleiben. In 2024 wurde ein demografisch relevantes Thema aufgegriffen: Der Blick richtet sich auf die Boomer, die geburtenstärksten Jahrgänge unserer Zeit. Sie scheiden aus dem Beruf aus – das gilt auch für die in der Pflege tätigen Boomer. Sie werden künftig eine große Zahl auf Pflege angewiesener Menschen „stellen“. Bis dahin werden sie nicht selten mit Aufgaben informeller Pflege konfrontiert sein – als Angehörige, Partner, Freunde und Nachbarn.

Zu den Kernaussagen des DAK-Pflegereports gehören die sogenannten Kipppunkte zwischen Berufsaustritten und Qualifikationen für die Pflege. Gemeinsam mit dem Deutschen Institut für angewandte Pflegewissenschaften (DIP) wurden für alle Bundesländer die Qualifizierungsreserven ermittelt. Sobald mehr Pflegekräfte aus dem Beruf altersbedingt ausscheiden als nachrücken (können), tritt der personelle „Kipppunkt“ der Pflege ein.

Der DAK-Pflegereport bezeichnet dies als einen der Boomer-Effekte. Die Qualifizierungsreserve sinkt (dramatisch) – allerdings mit großen Unterschieden zwischen den Bundesländern. Während Bayern über die geringste Qualifizierungsreserve verfügt und den Kipppunkt bereits 2028/29 erreichen wird, ähnlich wie Sachsen-Anhalt und Bremen, sieht dies etwa in Nordrhein- Westfalen, aber auch in Thüringen anders aus: Hier hat man wohl rechtzeitig stärker in die Pflegeausbildung investiert. Auch sind die demografischen Entwicklungen unterschiedlich. In manchen Regionen nimmt aktuell die Zahl der über 75-Jährigen ab. Daher lohnt ein genauer Blick in die Bundesländer für eine systematische Pflegebedarfsplanung; aber auch in die Regionen, die Landkreise und kreisfreien Städte, da es auch hier große Unterschiede zu verzeichnen gilt. Die Aufrechterhaltung hoher Ausbildungszahlen – 2021 war der Pik mit den höchsten Ausbildungszahlen an Pflegeschulen bislang – ist ebenso eine Obliegenheit der Bundesländer und Regionen. Das gilt auch für den Ausbau akademischer Qualifizierungskapazitäten: Sie werden für die Zukunft von noch größerer Bedeutung werden als heute. Auch für Abiturient:innen muss die Pflege ähnlich attraktiv werden wie die Medizin. Immerhin hat die Bundesregierung den Weg zu einer attraktiveren akademischen Pflegeausbildung eröffnet. An dem Thema Zuwanderung führt kein Weg vorbei – insbesondere für Auszubildende. Gefragt sind entsprechende Investitionen in Integration, in soziale Unterstützung, aber auch in eine Grundhaltung in der deutschen Bevölkerung: Zuwanderung ist willkommen und ohne sie werden wir den „Standort Deutschland“ nicht halten und die vielen Konsequenzen des demografischen Wandels nicht auffangen können.

Zum DAK-Pflegereport gehörte auch wieder eine Routinedatenauswertung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), durchgeführt von der OptiMedis AG in Hamburg. Wie ist der Gesundheitsstatus der beruflich Pflegenden? Die Befunde sind erschreckend: In der Altenpflege beträgt die Zahl der Tage der Arbeitsunfähigkeit (AU) weit über 50, das sind im Schnitt etwa drei Monate. Die AU-Tage liegen deutlich über dem Durchschnitt der in anderen Berufen tätigen älteren Arbeitnehmer:innen. Auch hier finden sich große Unterschiede – regional, aber insbesondere auch bezogen auf die Arbeitgeber. Die Sozial-Holding in Mönchengladbach etwa verzeichnet bei den Mitarbeitenden der Boomer-Generationen lediglich einen durchschnittlichen AU-Ausfall von etwa 18 Tagen pro Jahr. Gesundheitsprävention, günstige Arbeitsbedingungen, sicherere Dienstpläne: All das sind Maßnahmen, die insbesondere bei der älteren Belegschaft von größter Bedeutung sind. Anders als häufig kolportiert wird, bleiben Pflegende überwiegend bis zum offiziellen Renteneintritt im Beruf. Bei den Pflegehilfs- oder Assistenzkräften ist dies noch stärker zu beobachten, sie arbeiten häufig über die gesetzliche Altersgrenze hinaus. Das hat dann auch etwas mit Armutsvermeidung zu tun. Während Pflegefachpersonen inzwischen vergleichsweise sehr gut verdienen – sie gehören zu dem in der Regel bestbesoldeten nicht akademischen Ausbildungsberuf –, gilt dies nicht für Pflegeassistenzkräfte, insbesondere nicht für diejenigen, die in Teilzeit arbeiten.

Ein weiterer Baustein des DAK-Pflegereports ist traditionell eine repräsentative Bevölkerungsbefragung, durchgeführt vom Institut für Demoskopie Allensbach. Die Bevölkerung sieht in dem Pflegethema eine der zentralen gesellschaftlichen Herausforderungen, sie befürchtet deutlich steigende Kosten für die Pflege. Gerade die Boomer-Generation zeigt sich in hohem Maße bereit, selbst Pflegeaufgaben sowohl in Partnerschaft als auch in Familie, aber auch gegenüber Nachbarn und Freunden im Sinne einer regelhaften Unterstützung zu übernehmen. Immerhin 50 Prozent signalisieren, dass sie bereit wären, entweder gegen oder ohne Entgelt regelmäßig Unterstützung im sozialen Nahraum übernehmen zu wollen. Das sind die guten Nachrichten. Was die Finanzierung der Pflegeversicherung anbelangt, ist man in Sorge und gleichzeitig aber auch nicht sehr bereit, höhere Beiträge zu akzeptieren oder privat Vorsorge zu schaffen, etwa durch eine private Zusatzpflegeversicherung. Der Pflege-Bahr (eingeführt 2013 im Rahmen des Pflegeneuausrichtungsgesetzes) ist gescheitert und eine private Pflegezusatzversicherung ist etwas für die obere Mittelschicht. Auch ein Steuerzuschuss wird von der Bevölkerung eher abgelehnt, dafür wird insbesondere von den niedrigen Einkommensgruppen eine stärkere Belastung von einkommensstärkeren Haushalten für richtig gehalten. In welche Richtung eine solche Aussage zu interpretieren ist, das gehört zu den spannenden Fragen der nächsten Jahre. Das Gutachten zur Finanzierung der Pflege für das Bundeswirtschaftsministerium, noch in der Vorläuferregierung unter Angela Merkel in Auftrag gegeben, empfiehlt den Verbrauch der Vermögen der Boomer-Generation, was letztlich auf einkommens- und vermögensabhängige Leistungen hinauslaufen würde – nicht sonderlich attraktiv, insbesondere auch in den ostdeutschen Bundesländern nicht.

Neue Wohnformen werden auch in der Bevölkerung für wichtig erachtet. Man wünscht sich eine Gleichstellung in der Finanzierung von Wohngruppen und vollstationären Pflegeeinrichtungen. Die Aussagen passen zu den Überlegungen im Bundesgesundheitsministerium, neue Wohnformen mit in das Leistungsspektrum der Pflegeversicherung einzubeziehen. Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach hat hier den etwas belegten Begriff von „stambulant“ aufgegriffen. Große Unsicherheit besteht in der Bevölkerung, man ist in der Regel ratlos, wie man sich mit den in der Zukunft zu erwartenden Herausforderungen in der Pflege auseinandersetzen kann und soll. Insofern lohnt die systematische Befassung insbesondere auch auf kommunaler Ebene mit der Frage, wie wir füreinander sorgen. Das Leitbild der Caring Community ist hier eines, das einen Rahmen für diese Überlegungen anbietet. In 16 qualitativen Interviews hat AGP Sozialforschung beruflich Pflegende aus der Boomer- Generation interviewt. Für viele war die Pflege ein Traumberuf und könnte es auch sein. Nur scheint durch die Interviews auch inzwischen viel Erschöpfung durch: Die Personalengpässe stellen sich als Belastung für die Pflegenden dar. Auch zeigt sich, dass moderne Professions- und Berufskonzepte der Pflege bei den älteren beruflich Pflegenden nicht besonders resonanzfähig sind. Die „ganzheitliche Pflege“ steht im Vordergrund, man möchte für die auf Pflege angewiesenen Menschen insgesamt sorgen – psychosozial und medizinisch-pflegerisch. Das, was etwa die Vorbehaltsaufgaben der Pflege gemäß § 4 Pflegeberufegesetz als Aufgaben- und Kompetenzprofil nahelegen, die Steuerung des Pflegeprozesses, gehört mit Ausnahmen nicht zum beruflichen Identitätsset der Boomer-Generation. Auch deuten sich nicht ganz unerhebliche Differenzen zwischen den unterschiedlichen Generationen beruflich Pflegender an: Die Generation der Boomer, die Generation Z, sie prägen unterschiedliche Einstellungen zum Beruf. Der Beruf hat auch typischerweise unterschiedliche Bedeutung in der Lebensgestaltung. Auch der immer größer werdenden Anzahl von beruflich Pflegenden mit internationaler Familiengeschichte begegnen die Boomer differenziert: Sie sehen sie als Bereicherung, als Ergänzung, aber zum Teil auch durchaus mit einem kritischen Auge. Pflege ist ein Frauenberuf, auch das scheint aus den qualitativen Interviews immer wieder hervor: Diskontinuitäten in der Berufsbiografie, Unterordnung der Berufskarriere in der Pflege gegenüber dem Beruf des Mannes – typisch für die Pflege und ein Hindernis für eigenständige Karrieren und Aufstieg. Schließlich wird als relevante Erkenntnis deutlich, dass die zunehmende Kommerzialisierung der Pflege sich negativ auf die Berufsmotivation auswirkt. Wenn man sich schon mit viel Empathie und hoher Einsatzbereitschaft für die Patient:innen und auf Pflege angewiesene Menschen einsetzt, passt das nicht in einen kommerziellen Kontext, in dem Fragen der Rendite bei einer ganzen Reihe von Trägern doch eine unübersehbare und spürbare Wirkung entfalten.

Wie soll es weitergehen mit der Pflege? Eine pflegepolitische Agenda steht am Ende des DAK-Pflegereportes, „garniert“ durch 16 Good-Practice-Beispiele, aus jedem Bundesland eines. So ist die Bestandsaufnahme des DAK-Pflegereports schonungslos, gerade was die Zukunft der beruflichen Pflege anbelangt. Sie zeigt aber auch Perspektiven und Wege auf: Eigenständigkeit der Pflege, Eigenverantwortung der Pflege, stärkere Rolle der Kommunen und möglicherweise doch eine grundlegende Reform der Pflegeversicherung, die nicht mehr allein Marktgesichtspunkten folgen darf. Finanziell ist die Pflegeversicherung schon 2024 „am Ende“. Insofern wird man sich so oder so grundlegend über die sozialstaatliche Sicherung von dem, was wir in Deutschland Pflegebedürftigkeit nennen, Gedanken machen müssen. Konzepte der Pflegevollversicherung oder des Sockel-Spitze-Tausches sind in jedem Fall vom Tisch. Auch eine „Mehrpersonalisierung“ der Pflege erscheint unrealistisch. Kompetenzorientierter Einsatz von Fachkräften, sektorenübergreifende Versorgungskonzepte und zivilgesellschaftlich flankierte Selbstorganisation von Sorge: Darin liegen die Perspektiven der „Pflegerepublik Deutschland“.

Pflegepolitische Agenda

  • Pflegeversicherung zukunftssicher gestalten: Kapitalgedeckte Zusatzversicherungen greifen erst in 40 Jahren.
  • Informelle Pflege neu denken, unterstützen und qualifizieren: Ohne sie gibt es keine Antworten auf die Sorgeund Pflegeaufgaben der Zukunft.
  • Neue Wohnformen absichern, planen und fördern: Es braucht Alternativen zur Heimversorgung und zur klassischen häuslichen Pflege durch Angehörige auf kommunaler Ebene.
  • Professionelle Pflege in ihrer Eigenständigkeit fördern: Die größte Berufsgruppe des Gesundheitswesens muss eine anerkannte Stellung und eine der Medizin vergleichbare Verantwortung erhalten.
  • Effizienz der gesundheitlichen Versorgung stärken: Ohne sektorenübergreifende Versorgungskonzepte gelingt es nicht, Pflegebedürftige überall in Deutschland gut zu begleiten.
  • Konsequente Gesundheitsförderung und Prävention für Pflegeberufe: Betriebliche Gesundheitsförderung und andere Präventionsstrategien zeigen Wirkungen. Qualifizierung und Ausbildung in der Pflege flächendeckend sichern. Um den Stand der guten Ausbildungszahlen in der Pflege zu halten, bedarf es in allen Regionen Ausbildungskapazitäten. Das gilt es bei der Krankenhausreform in den Blick zu nehmen.

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