Interview mit Dr. Christian Fohringer, Co-Geschäftsführer von Notruf Niederösterreich

„Nicht die gewählte Nummer darf entscheiden“

Eine der weltweit größten Leitstellen im Bereich des Rettungsdienstes findet sich in Niederösterreich: Notruf Niederösterreich wird häufig als Blaupause für eine moderne Leitstelle angeführt, die Notrufe zentral entgegennimmt und steuert. Co-Geschäftsführer Dr. Christian Fohringer erklärt in ersatzkasse magazin., wie die Leitstelle funktioniert.

Dr. Christian Fohringer, Co-Geschäftsführer von Notruf Niederösterreich

Notruf Niederösterreich wurde 2003 gegründet. Wie war der Rettungsdienst in Ihrem Bundesland vorher organisiert, worauf war „Notruf NÖ“ die Antwort?

Dr. Christian Fohringer: Die Rettungs- und Krankentransportorganisationen wussten, dass die bisherige Leitstellenstruktur (rund 90 Einzelleitsstellen) vor dem Hintergrund effizienter Rettungsdienstdisposition, wirtschaftlicher Krankentransportorganisation sowie der Einführung des Digitalfunks zur Jahrtausendwende nicht mehr zeitgemäß waren. Die Antwort war jedoch keine Zusammenlegung von einzelnen Leitstellen zu bestimmten Organisationen oder Stützpunkten, sondern die Gründung einer Struktur, wo alle Organisationen sowie das Land Niederösterreich im Aufsichtsrat sind, die aber eigenständig und neutral allen gegenüber agiert. Wichtigster Punkt war von Beginn an die Integration aller kommunikativen Gesundheitsdienstleistungen – für den Notfall oder auch nicht dringende Anfragen, welche über die Jahre immer mehr erweitert wurden.

Leitstelle von Notruf Niederösterreich

Was passiert im Vorder- und im Hintergrund, wenn ein Anruf in Ihrer Leitstelle eingeht?

Ein primäres Routing erfolgt aufgrund der gewählten Nummer (Notruf, Krankentransport, Ärztedienst, Gesundheitsberatung, Hotlines …) zum jeweiligen dafür ausgebildeten und dadurch berechtigten Mitarbeiter. Grundsätzlich erfolgt aber dann immer ein „Clearing“, ob zum Beispiel jemand am Notruf nur nach einer dienstbereiten Apotheke fragt oder ob ein Notfall über die Ärztedienstnummer gemeldet wird. Dafür sind unterschiedlich ausgebildete Kommunikationsexperten im Dienst, die eben auch unterschiedliche Aufgaben haben. Wenn geklärt ist, welche „Dringlichkeit“ das Hilfeersuchen hat, wird mit dem jeweils passenden standardisierten Abfragesystem der Anrufer in das Gesundheitssystem gelotst.

Es ist in Deutschland nicht selten, dass der Notruf gewählt wird, obwohl gar kein Notfall vorliegt. Welches Gewicht haben solche Anrufe in Ihrer Leitstelle und wie geht Ihr Team damit um?

Jeder Anrufer ist bei uns richtig, egal welches gesundheitliche Anliegen und wie dringlich es ist. Wir sind dabei ein Gatekeeper, oder besser -opener ins Gesundheitssystem. Je nach Dringlichkeit leiten wir die Menschen zur für das Problem passenden Versorgungseinrichtung, das der jeweiligen Region zur Verfügung steht. Grundlage dafür ist die qualitätsgesicherte, nach internationalen Standards durchgeführte Notrufabfrage, damit mit gutem Gewissen jemand als „Nicht-Notfall“ eingestuft werden und damit zum Beispiel in den niedergelassenen Bereich oder in die Selbstbehandlung verwiesen werden kann.

Seit vier Jahren bilden Sie sogenannte „Acute Community Nurses“ aus. Was steckt dahinter, welche Rolle spielen diese Nurses in Ihrer Leitstelle?

Neben Disponenten, Notrufexperten und Calltaker sowie Chatroom-Agents für Social Media und Messengerkontakte – mit einer horizontalen Arbeitsteilung (Anrufannahme und Disposition) – sind seit 2017 auch diplomierte Pflegepersonen direkt am Telefon tätig und führen die Gesundheitsberatungen sowie Dringlichkeiteinschätzungen für „Nicht-Notfälle“ durch. Diese nennen sich ECN – Emergency Communication Nurses. Hier erkannten wir vor Jahren eine Lücke in der präklinischen Versorgung. Viele Fälle könnten vor Ort akutpflegerisch gelöst und damit eine Hospitalisierung vermieden werden. Mit dem Pilotprojekt „Acute Community Nurse“ (ACN) werden seit Mai 2020 diplomierte Pflegepersonen mit der Zusatzausbildung zum/zur Notfallsanitäter/in mit Notfallkompetenzen eingesetzt. Diese sollen die Lücke in der Versorgung zwischen niedergelassenen Ärzten, mobiler Pflege und klinischer Versorgung schließen. Ziel ist die zeitnahe aufsuchende Betreuung bei akuten gesundheitlichen Problemen als Ergänzung zu bestehenden Systemen. Neben den grundlegend pflegerischen Tätigkeiten werden die ACN auch gemeinsam mit dem Rettungsdienst zu akuten Notfällen disponiert, um das therapiefreie Intervall für die kranken, verletzten und hilfsbedürftigen Personen so gering wie möglich zu halten. Die Schwerpunkte der ACN-Tätigkeit bilden akute Interventionen bei Sonden- und Kathetersystemen, Wundversorgungen sowie die Durchführung von ärztlich angeordneten Infusionstherapien. Es werden aber auch Gesundheitsberatungen durchgeführt und die Begleitung von Personen, welche zu Hause ihr Lebensende erwarten.

Kann die Leitstelle in Niederösterreich ein Vorbild für Deutschland sein?

Natürlich, die Leitstellenstruktur in Niederösterreich war noch viel kleinteiliger und mit Technik und Abläufen aus den 1980er und 90er Jahren ausgestattet. Eine derart tiefgreifende Änderung wird aber nicht friktionsfrei ablaufen. Über Jahrzehnte gibt es sündteure Kampagnen, wo versucht wird, dem Laien zu erklären, bei welchem „Notfall“ oder Gesundheitsproblem welche Nummer zu rufen sei. Der Effekt verhallt – wenn überhaupt angenommen – nach nur wenigen Wochen ungehört. Denn nicht die gewählte Telefonnummer darf über die Dringlichkeit und die Art der Hilfe entscheiden, sondern der Zustand und der Bedarf des Patienten, abhängig von den verfügbaren Versorgungseinrichtungen. Dafür ist ein Gateopener-System wichtig, an das sich Menschen niederschwellig, also nicht nur telefonisch, sondern auch via Social Media und Chatsystemen wenden können. Der Experte am anderen Ende muss dann nach qualitätsgesicherten Richtlinien den Hilfesuchenden zum „Best-Point-of-Service“ leiten. Dafür ist der Zugriff sowohl auf die hochqualifizierte Notfallrettung aber auch auf „Non-Emergency“-Systeme wie Krankentransport, Akutpflege, kassenärztlicher Notdienst, Terminbuchungssystem bei niedergelassenen (Fach)ärzten und Primärversorgungseinrichtungen sowie auf Sozialarbeits- und Psychologische Dienste unumgänglich.

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