Im Interview mit ersatzkasse magazin. fordert Dr. Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), einen gesundheitspolitischen Neustart und erläutert, welche Weichenstellungen zur Stärkung der ambulanten Versorgung notwendig sind. Im Kern geht es um bessere Patientensteuerung, Stärkung der Selbstverwaltung, nachhaltige GKV-Finanzierung, Bürokratieabbau und nutzenorientierte Digitalisierung.

Herr Dr. Gassen, 2025 werden die Ausgaben in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) voraussichtlich auf eine Rekordhöhe von 341 Milliarden Euro steigen, im ambulanten Bereich sind es etwa 53 Milliarden Euro. Wodurch erklären sich die hohen Gesundheitsausgaben?
Dr. Andreas Gassen: Ohne Frage haben wir eine deutliche Steigerung der Krankenkassenbeiträge wie auch aller Sozialbeiträge, die die Lohnkosten und auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer stark belasten. Ein entscheidender Grund ist, dass bei der GKV finanzielle Belastungen verortet sind, die dort nichts verloren haben. Prominentes Beispiel ist die nicht ausreichende Finanzierung der Bürgergeld-Beziehenden, sprich die GKV-Beitragszahlerinnen und -zahler werden durch Ausgaben von rund zehn Milliarden Euro im Jahr belastet, die eigentlich in die Fürsorgepflicht des Staates fallen. Und dieses Gebaren könnte sich auch fortsetzen, denken Sie aktuell an den geplanten Transformationsfonds für die Krankenhausreform, der überwiegend durch GKV-Beitragsmittel finanziert wird und gleichzeitig dem Umbau von Krankenhäusern dienen soll. Nicht zuletzt wegen der Wettbewerbsverzerrung zulasten des ambulanten Sektors ist dieser Transformationsfonds in dieser Form rechtswidrig. Darüber hinaus wurden die einstigen Finanzreserven der Krankenkassen im Zuge politischer Entscheidungen aufgebraucht. Kostentreiber sind überhaupt maßgeblich durch Gesetzgebungen und Aufgabenverortung verursacht, die nicht dem originären Zweck der Krankenversicherung entsprechen. Wenn das Gesundheitswesen von den versicherungsfremden Leistungen entlastet würde, wäre schon etwas Luft gewonnen.
An welchen Stellschrauben müsste noch gedreht werden, um einen weiteren Anstieg der Ausgaben zu begrenzen? In den KBV-Forderungen zur Bundestagwahl wird angeregt, eine Priorisierung der Verwendung der Finanzmittel zu diskutieren.
Natürlich müssen wir eine Begrenzung der Ausgaben hinbekommen. Eine Priorisierung bezüglich der Gesundheitsleistungen, wie sie in Großbritannien stattfindet, halte ich indes nicht für einen guten Weg. Ich tue mich auch schwer mit der Vorstellung, dass jemand, der im Alter von 70 Jahren eine Endoprothese haben möchte, lange warten oder zuzahlen muss oder die Endoprothese schlussendlich nicht bekommt. Da sind wir hierzulande deutlich besser aufgestellt. Dennoch haben wir vor dem Hintergrund von Fehl- und Mehrfachinanspruchnahmen Reserven, die wir heben können. Viele Medikamente und Verordnungen landen in der Schublade, manchmal sogar im Müll. Also, es können Effizienzreserven gehoben werden, ohne das Leistungsangebot zu verringern und vor allen Dingen auch ohne dauerhaft die vorhandene Unterdeckung darüber zu finanzieren, dass beispielsweise die Praxen mit hohen Budgetabstufungen zu kämpfen haben.
Was ist zu tun, um solche Mehrfachinanspruchnahmen beziehungsweise Erwartungen der Patientinnen und Patienten besser zu steuern?
Zunächst einmal sollte nicht der Eindruck erweckt werden, jeder und jede könnte alles zu jeder Zeit bekommen. Das ist offenkundig erstens nicht möglich und zweitens im Sozialgesetzbuch V auch nicht vorgesehen. Wirtschaftlich ausreichende, notwendige und zweckmäßige Leistungen sind eine Maßgabe im SGB V, damit das System finanzierbar ist. Von daher dürfen wir nicht Erwartungen wecken, die nicht erfüllbar sind und zwangsläufig zu Frustrationen führen. Dies ist erstens eine politische Forderung, weil die Politik den Menschen eigentlich reinen Wein einschenken müsste, aber dies nur ungern tut. Das treibt zurzeit seltsame Blüten, beispielsweise ist die SPD mit einer Termingarantie in den Wahlkampf gezogen. Das ist ein unerfüllbares Thema und die Politik ist insofern mitverantwortlich. Zweitens sollten wir uns in der gemeinsamen sozialen Selbstverwaltung dem Problem nähern, auch weil wir es gemeinsam besser lösen können als die Politik.
Apropos Wartezeiten: GKV-Versicherte klagen seit Langem über lange Wartezeiten bei Facharztpraxen. Aus den Krankenkassen kommt unter anderem der Vorschlag, ein gemeinsames Online-Portal von GKV und KBV einzurichten, auf dem verpflichtend freie Termine genannt werden sollen. Was halten Sie davon?
Zunächst einmal sind unsere Wartezeiten im internationalen Vergleich kurz. Die Vergabe von Online-Terminen ist sicher zukunftsweisend, vorausgesetzt das System dahinter funktioniert. Werden Online-Termine reibungslos vergeben, wird sich wahrscheinlich niemand mehr über nennenswerte Wartezeiten beschweren. Um die Forderung der Vergabe nach medizinischer Dringlichkeit zu adressieren, bräuchten wir allerdings ein objektives Kriterium bei der Terminvergabe, also welcher Termin medizinisch dringend ist und welcher nicht. Ohne eine solche belastbare objektive Einschätzung sind die pauschalen Forderungen nach kürzeren Wartezeiten populistisch. Wer soll diese Einschätzung machen – eine KI-Software beispielsweise oder ärztliches Personal?
Deswegen fordern Sie ein Ersteinschätzungsverfahren.
Richtig. In Ansätzen gibt es bei der Patientenservicenummer 116117 ein solches Verfahren für die Akutfälle, wie wir es bei den Notrufnummern 110 und 112 kennen. Bei den Anrufen wird über die folgenden Fragen entschieden: Ist die Situation lebensbedrohlich, muss der Krankenwagen kommen oder wurde ein Rezept vergessen? Bei diesem abgestuften Prinzip, wie wir es vorschlagen, bekommen die Patientinnen und Patienten eine schnellere Versorgung, weil alles ineinandergreift und eine bessere Koordination über die medizinische Anlaufstelle erfolgt. Dadurch wird die ambulante Versorgung nicht nur wirtschaftlich effizienter, sondern wahrscheinlich auch besser und würde womöglich auch die Diskussion um mehr Termine für die GKV-Versicherten entlasten.
In welchem Umfang wird die 116117 für Akutfälle derzeit eigentlich genutzt? Anfänglich gab es ja den Vorwurf, dass die Patientenservicenummer gar nicht bekannt sei.
Tatsächlich gibt es inzwischen Millionen Inanspruchnahmen bei der 116117. 2024 hatten wir beispielsweise 12,8 Millionen Anrufe über die 116117. Dort, wo das Ersteinschätzungsverfahren funktioniert, ist die Entlastung sofort spürbar. Und am Ende des Tages haben wir auch zufriedene Patientinnen und Patienten. Die Schwierigkeit bei dem erweiterten Einschätzungsverfahren wird am Anfang sein, dass es sich erst beweisen muss.
Macht es nicht mehr Sinn, eine Ersteinschätzung direkt in den Arztpraxen (bei dem Arzt/der Ärztin des Vertrauens) im Rahmen von Versorgungsmodellen mit den Krankenkassen zu etablieren?
Die Praxen sind mit der aktuellen Versorgung mehr als ausgelastet, da gibt es keine Valenzen für Ersteinschätzungen fremder Patientinnen und Patienten. Wenn wir dieses System über die 116117 hochfahren wollen, brauchen wir aber finanzielle Mittel, das kann die Ärzteschaft nicht weiter wie bisher selber stemmen. Die Frage ist auch, ob die Krankenkassen das bezahlen müssten oder ob es sich bei einem solchen System schon um Daseinsvorsorge handelt, wie es bei der Feuerwehr oder Polizei der Fall ist. Wenn wir das etablieren, würde ein großer Teil des Drucks, der aufgrund einer subjektiv empfundenen Notfallsituation entsteht, aber objektiv kein medizinischer Notfall ist, wegfallen. Zahlenmäßig reden wir nur über rund acht Millionen Fälle im Jahr bei einer Gesamtzahl von 560 Millionen ambulanter Fälle im Jahr, aber sie führen dazu, dass in der Krankenhausambulanz Menschen mit einem Schnupfen sitzen, die da beim besten Willen nichts verloren haben. Das von uns vorgeschlagene System funktioniert aber nur, wenn es auch für Patienten Verbindlichkeit entfaltet. Das heißt, alle Versicherten, gesetzlich wie privat, müssen sich für diese Fälle dort einloggen, danach erfolgt dann die medizinische Einschätzung.
Kommen wir zum Thema Stärkung der Versorgung auf dem Land. Welche (finanziellen) Anreizsysteme brauchen wir gerade auch für junge Ärztinnen und Ärzte? Und müssen wir nicht differenzieren, je nachdem, ob es sich um eine unterversorgte oder überversorgte Region handelt?
Im Grundsatz ist dieser Anreiz, dass Arztpraxen in strukturschwachen Gebieten besser stehen, im einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM) angelegt. Wenn Sie in der Maximilianstraße in München eine Praxis unterhalten, ist dies sicherlich teurer als in der Uckermark. In den Metropolregionen gibt es mehr Praxen, weil dort einfach viele Menschen leben und arbeiten. Im Gegensatz dazu gelten etwa in Brandenburg nach Raumplanungskriterien quasi Teile als unbesiedelt. Damit sich eine Praxis wirtschaftlich trägt, ist ein gewisser Patientenstamm notwendig, das ist bei Praxen nicht anders als im Handel. Es lässt sich auch nicht pauschal sagen, dass es auf dem Land schlechte und in der Stadt gute Bedingungen gibt. Es gibt ländliche Bereiche, die hochbegehrt sind und städtische Bereiche, wo sich niemand niederlassen möchte. Von daher geht es tatsächlich um die vergleichbare Lebenssituation. Hier ist die Politik gefragt, den Strukturwandel in vernachlässigten Regionen auf den Weg zu bringen.
Müssen wir nicht neue Wege gehen, weg von der Einzelpraxis? Die Ersatzkassen haben zum Beispiel das Modell der regionalen Gesundheitszentren (RGZ) auf den Weg gebracht, wo nichtärztliche und ärztliche Professionen unter einem Dach zusammenarbeiten.
Allerdings wird für solche größere Strukturen noch mehr Personal notwendig, und Sie brauchen zur Kostendeckung deutlich mehr Patientinnen und Patienten. Nicht überraschend haben viele Kommunen, die breitbeinig große MVZ gegründet haben, diese kleinlaut wieder geschlossen, weil diese Strukturen wirtschaftlich nicht tragbar waren. Aus meiner Erfahrung ist die Einzelpraxis unverändert beliebt, bei den Kolleginnen und Kollegen und auch bei den Patientinnen und Patienten. Sie ist zweifelsohne eine große Verantwortung für die Betreiberinnen und Betreiber, aber sie ist in der Lage, viel kleinteiliger zu versorgen als es bei großen Strukturen der Fall ist. Eine Lösung für strukturschwache Gebiete könnte vielleicht sein, in Kooperation mit den Kommunen tageweise Sprechstunden unterschiedlichen Facharztdisziplinen anzubieten.
Durch die Krankenhausreform wird jetzt das Thema Ambulantisierung noch eine größere Wichtigkeit bekommen. Die Zukunft der Medizin ist ambulant, sagen auch Sie.
Ja, derzeit haben wir noch rund 1.700 Krankenhäuser. Es gibt seriöse Berechnungen, wonach wir mit 300 bis 600 Krankenhäusern gut ausgestattet wären. Das heißt, wir haben wahrscheinlich rund 1.000 Kliniken zu viel. Darunter sind einige Kleinstkrankenhäuser mit 50 bis 80 Betten. Wenn diese schließen, erhöht sich der Bedarf noch einmal. Wir müssen aber den Transformationsprozess hin zu mehr Ambulantisierung hinbekommen. Um diese Richtung einzuschlagen – also stationäre Versorgung für wirklich stationäre Fälle vorzusehen und Praxen für ambulante Versorgung – braucht man einen Plan und eine belastbare Finanzierung für mehrere Jahre.
Seit dem 1. Januar 2025 ist eine neue Hybrid-DRG-Vergütungsvereinbarung in Kraft getreten, wonach alle bisherigen Hybrid-DRG besser vergütet werden. Inwieweit stärken und beschleunigen Hybrid-DRG die Ambulantisierung?
Hybrid-DRG sind in der Theorie ein richtiger Ansatz, aber: Hier haben wir aber in der praktischen Umsetzung noch viel Luft nach oben. Die Anzahl der Eingriffe, für die es eine Fallpauschale gibt, ist auch mit den nun neu hinzugekommenen noch immer überschaubar. Die Vergütung ist zu niedrig, um Anreize zu setzen, und die Frage der Sachkosten nicht geklärt. Wir brauchen weitere Anreize, damit mehr stationäre Operationen ambulant erfolgen könnten. Es besteht Konsens darüber, dass wir die Ambulantisierung fördern wollen. Wir würden uns hier aber auch mehr Unterstützung von den Krankenkassen wünschen.
Welche Rolle muss die Digitalisierung in der Versorgung spielen? Und welche Chancen sehen Sie in der elektronischen Patientenakte (ePA)?
Die Entwicklungen bei der elektronischen Patientenakte verfolgen wir genau, Datensicherheit und Praktikabilität müssen sich erst noch bewähren. Mehr Digitalisierung ist notwendig, aber sie muss praxistauglich sein. In einer funktionierenden Welt der aufeinander abgestimmten Systeme würde auch die ePA funktionieren. Wobei wir eine ePA aus ärztlicher Sicht anders gestalten würden. Wenn Sie aus der ePA wirklich medizinische Handlungsweisen ableiten wollen, dann müsste ihre Befüllung den rein medizinischen Kriterien und Standards gehorchen. Und das beißt sich mit dem nachvollziehbaren Wunsch der Patientinnen und Patienten, die Akte in Teilen zu verblinden. Aber natürlich obliegt es den Versicherten selbst zu entscheiden, ob und welche Daten sie verbergen wollen oder nicht.
Noch ein Wort zu Ihrer Forderung nach einem „Pakt für die Selbstverwaltung“.
Die soziale Selbstverwaltung ist die große Stärke unseres Gesundheitssystems. Dazu gehört aber auch, sie als Partnerschaft zu verstehen, die ungeachtet der berechtigten Eigeninteressen ein gemeinsames Ziel verfolgt. Letztlich geht es doch darum, in Abstimmung gemeinsame Wege zu finden. Hier gibt es in meiner Wahrnehmung auch bei den Krankenkassen eine ganze Reihe von Playern, die ihre Bereitschaft signalisieren mitzumachen. Was uns als Akteure und Akteurinnen eint, ist, dass die Politik es nicht besser macht. Wir sollten daher gemeinsam auf mehr Gestaltungsspielräume und Stärkung der Finanzautonomie drängen und auch in die Politik hineinspielen, uns den entsprechenden Spielraum zu geben