Große Qualitätsunterschiede seien Teil der deutschen Versorgungsrealität, sagt Dr. Stefan Gronemeyer, Vorstandsvorsitzender des Medizinischen Dienstes Bund (MD Bund), im Interview mit ersatzkasse magazin. Zur Sprache kommen unter anderem die Themen Patientensicherheit, Krankenhausreform, Gegenwart und Zukunft des MD Bund sowie Erwartungen an die kommende Bundesregierung.

Herr Dr. Gronemeyer, mit dem Inkrafttreten des MDK-Reformgesetzes vor gut fünf Jahren wurde aus dem MDS der Medizinische Dienst Bund. Was hat sich durch diesen Übergang verändert ?
Dr. Stefan Gronemeyer: Der Medizinische Dienst Bund ist durch die Reform gestärkt worden. Der Übergang der Trägerschaft des MDS vom GKVSpitzenverband auf die 15 Medizinischen Dienste hat den MD Bund zu einer eigenständigen, unabhängigen Institution gemacht. Der MD Bund ist quasi zum Verband der Medizinischen Dienste geworden. Unsere Aufgabe ist es, Richtlinien für die Tätigkeit der Medizinischen Dienste zu erlassen. Die damit verbundene Verbesserung der Partizipation und Transparenz tragen zur neuen Bedeutung und Sichtbarkeit des MD Bund bei.
Wie würden Sie die Kernaufgaben des MD Bund beschreiben ?
Unsere Kernaufgabe ist die Beratung der Kranken- und Pflegeversicherung auf Bundesebene in enger Kooperation mit den Kompetenzeinheiten des Medizinischen Dienstes. Weiterer Schwerpunkt ist die Koordinierung der Durchführung der Aufgaben und der Zusammenarbeit der Medizinischen Dienste. Im Klartext: Der MD Bund trägt Sorge für eine einheitliche Aufgabenwahrnehmung, indem er Richtlinien erlässt und sich als Interessenvertretung der Dienste auf der Bundesebene einbringt.
Stichwort Qualität in der Versorgung: Wo stehen wir hier aus Ihrer Sicht in Deutschland ?
Die Versorgung in Deutschland ist durch das Nebeneinander von Über-, Unter- und Fehlversorgung gekennzeichnet – und das zu vergleichsweise hohen Kosten. Teil der Versorgungsrealität ist einerseits exzellente Qualität, andererseits gibt es aber auch gravierende Qualitätsmängel. Das Gesundheitsund Pflegesystem ist völlig unzureichend auf den demografischen Wandel und den Fachkräftemangel vorbereitet. Eine hohe Versorgungsqualität wird nicht allein durch die Bündelung von Fachkompetenz an spezialisierten Zentren zu realisieren sein. Wir brauchen auch sichere Versorgungs- und Behandlungsprozesse – hier haben wir nach wie vor großen Handlungsbedarf. Weit über 100.000 Patientinnen und Patienten sind jedes Jahr von vermeidbaren Schadensereignissen betroffen. Nach WHO-Angaben werden die damit verbundenen Folgekosten etwa durch Revisionsoperationen auf eine mittlere zweistellige Milliardensumme geschätzt. Der globale Aktionsplan für Patientensicherheit der WHO ist hierzulande nach wie vor nicht umgesetzt. Hier muss der Gesetzgeber tätig werden.
Ein wichtiger Aspekt im Bereich der Qualitätssicherung ist die Patientensicherheit. Welche Rolle spielt dieses Thema für den MD Bund?
Der MD Bund veröffentlicht seit 2012 jährlich die Ergebnisse von rund 14.000 Begutachtungen zu vermuteten Behandlungsfehlern. Aus den Daten lässt sich ablesen, dass es immer wieder zu den gleichen schweren Fehlern kommt, wie zum Beipspiel Seitenverwechslungen, Medikationsfehlern oder zurückgelassenes OP-Material. Der MD Bund setzt sich dafür ein, dass mehr für die systematische Fehlervermeidung und die Etablierung einer wirksamen Sicherheitskultur unternommen wird.
Die Ersatzkassen betreiben mit „Mehr Patientensicherheit“ ein sogenanntes CIRS (Critical Incident Reporting System), in dem Versicherte selbst von ihren Erfahrungen berichten können. Für wie sinnvoll erachten Sie solche Systeme?
Reporting-Systeme für sogenannte „Beinahe-Schäden“ sind sinnvoll, anerkannt und in deutschen Kliniken bereits gesetzlich vorgeschrieben. Der Nutzen für die Patientensicherheit steht und fällt allerdings mit der umfassenden Nutzung der Systeme durch die Anwender vor Ort und durch die systematische Auswertung der gemeldeten Ereignisse. Beides findet in Deutschland unzureichend statt. Es gibt in Medizin und Pflege keine ausgeprägte Sicherheitskultur. Außerdem fehlen klare gesetzliche Regelungen, die sicherstellen, dass diejenigen, die unerwünschte Ereignisse melden, vor Sanktionen geschützt sind. Der Ansatz der Ersatzkassen, nicht nur Professionelle, sondern auch Patientinnen und Patienten bei der Gewinnung von Informationen über Schwachstellen einzubeziehen, ist durchaus modern und sinnvoll.
Die Steigerung von Qualität ist auch ein erklärtes Ziel der Krankenhausreform. Wie muss die Reform aus Ihrer Sicht gestaltet sein, damit dieses Ziel erreicht werden kann?
Das Ziel der Krankenhausreform, bestimmte Behandlungen auf qualifizierte Kliniken zu konzentrieren, ist richtig. Das sagt einem ja schon der gesunde Menschenverstand. Mehr passiert aber zunächst nicht. Das sieht man etwa an der Diskussion um die Qualitätskriterien für die Leistungsgruppen: Die Qualitätskriterien sind Mindestanforderungen; sie sind kein Ausdruck für besonders gute Qualität. Die Chance, im Zuge der Reform verbindliche Sicherheitsmaßnahmen wie etwa ein verpflichtendes Meldesystem für besonders schwerwiegende, aber gut vermeidbare unerwünschte Ereignisse für alle Krankenhäuser einzuführen, wurde verpasst. Der MD Bund hatte vergeblich vorgeschlagen, dies mit dem Krankenhaustransparenzgesetz einzuführen.
Welche neuen Aufgaben kommen durch die Krankenhausreform auf den MD Bund und die Medizinischen Dienste zu und wie gut sehen Sie sich für diese Aufgaben gewappnet?
Für die Medizinischen Dienste ist die Prüfung von Qualitätskriterien in Krankenhäusern nichts Neues. Seit Jahren haben die Dienste Erfahrungen mit der Prüfung von OPS-Strukturmerkmalen. Die neuen Leistungsgruppenprüfungen sind dem sehr ähnlich. Sie werden fachlich sehr gut geleistet werden. Die eigentliche Herausforderung liegt woanders: Das Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz (KHVVG) sieht vor, die Prüfungen möglichst aufwandsarm und digital zu gestalten, um die Krankenhäuser nicht zu sehr zu belasten. Dieses Ziel wird vom Medizinischen Dienst, also dem MD Bund un den Medizinischen Diensten in den Ländern, vollumfänglich unterstützt. Wir stehen vor einer grundlegenden digitalen Transformation der Begutachtungs- und Prüfaufgaben. Die technischen Voraussetzungen dafür müssen geschaffen und Prüfkonzepte neu entwickelt werden. Das erfordert innovatives Denken, Zeit und Geld. Der Medizinische Dienst wird diese Veränderungen beherzt angehen. Anderenfalls werden die Akzeptanz und das Vertrauen in den Begutachtungs- und Prüfdienst leiden. Der MD Bund steht im engen Kontakt mit den Medizinischen Diensten, den Krankenkassen, den Krankenhäusern und den Landesplanungsbehörden, um dies professionell und zeitgerecht umzusetzen.
Die Komplexität der Verfahren wird zukünftig ohne leistungsfähige und standardisierte digitale Strukturen nicht zu bedienen sein. Was muss hierfür vom Medizinischen Dienst Bund und den Medizinischen Diensten, was muss seitens der Krankenhäuser getan werden?
Ziel des Medizinischen Dienstes sind aufwandsarme Prüfungen und schlanke Prozesse für alle Beteiligten. Es soll so wenig Aufwand wie möglich entstehen. Manche Krankenhäuser sind derzeit noch nicht in der Lage, die Unterlagen entsprechend der sogenannten Elektronischen-Vorgangsübermittlungs- Vereinbarung (eVV) zu übermitteln. Insofern sind auch die Krankenhäuser gefordert, digitale Strukturen auszubauen.
Kommen wir zum Thema individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL). Der vom MD Bund betriebene IGeL-Monitor stuft die Mehrheit dieser Selbstzahlerleistungen als „tendenziell negativ“ ein. Wie bewerten Sie diese Bilanz ?
Der vom MD Bund betriebene IGeL-Monitor hat 59 IGeL wissenschaftlich bewertet – davon 32 mit „negativ“ oder „tendenziell negativ“, weitere 24 mit „unklar“. Nur drei IGeL erhielten die Bewertung „tendenziell positiv“, keine einzige IGeL erhielt die Bewertung „positiv“. Fakt ist: Zu den meisten IGeL gibt es keine wissenschaftlichen Nutzenbelege. Viele Versicherte geben also Geld für Leistungen aus, die nichts bringen. Manche Angebote schaden sogar eher. Wir wissen anhand unserer regelmäßigen Erhebungen, dass IGeL in den ärztlichen Praxen häufig sehr positiv dargestellt und beworben werden, aber über das mögliche Schadenspotenzial wird gar nicht oder unzureichend informiert. Das muss sich ändern.
Viele Versicherte fühlen sich bei IGeL-Angeboten von ihren Ärztinnen und Ärzten unter Druck gesetzt. Was kann dagegen getan werden ?
Drei Dinge: Information, Information und Information! Es gibt klare Regeln für den Verkauf von IGeL, die auch gesetzlich normiert sind. Die meisten Patientinnen und Patienten wissen davon nichts und sie kennen ihre Rechte nicht. Die Informationspflichten in den ärztlichen Praxen müssen daher dringend verschärft und sanktioniert werden. Hilfreich wäre auch, wenn eine IGeL nie am gleichen Tag erbracht werden darf, an dem sie angeboten oder nachgefragt wurde. Leider hat die Politik die Versicherten bei dem Thema allein gelassen. Und das bei einem weitgehend unnützen Markt, der aktuell auf einen Umsatz von über 2,4 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt wird.
In welcher Rolle sehen Sie den MD Bund perspektivisch und wie stellen Sie sich dabei die Zusammenarbeit mit den Krankenkassen vor?
Der Medizinische Dienst versteht sich als Teil der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung. Wir sind Dienstleister für die unabhängige und kompetente Bewertung von medizinischen und pflegefachlichen Sachverhalten. Die Zusammenarbeit mit den Krankenkassen muss auch in Zukunft sehr gut verzahnt und effizient sein. Dazu erarbeiten wir mit den Kranken- und Pflegekassen entsprechende Grundsätze. Durch die MDK-Reform ist der Medizinische Dienst organisatorisch unabhängiger geworden. Das bedeutet perspektivisch, dass sich der MD Bund im gesundheits- und pflegepolitischen Diskurs auf eigene Füße stellen muss. Wir erwarten hier von den Kranken- und Pflegekassen einen Umgang auf Augenhöhe, als eigenständige Partner. Bei den großen inhaltlichen Überschneidungen zu Fragen der Versorgungsqualität, Patientensicherheit und Wirtschaftlichkeit der Versorgung erwarte ich diesbezüglich keine größeren Probleme.
Ein abschließender Blick auf die Politik: Welche Themen aus den Bereichen Gesundheit und Pflege sollte die neue Bundesregierung ganz oben auf ihre Agenda setzen ?
Es muss darum gehen, die Versorgung zukunfts- und demografiefest aufzustellen. Das heißt für die Pflege unter anderem, dass sich die Begutachtung effizienter und stärker an der individuellen Lebenssituation der Versicherten ausrichten sollte. Insgesamt sollten in der Gesundheitsversorgung die Steuerung verbessert und nur die Leistungen eingesetzt werden, die einen nachgewiesenen Nutzen zeigen. Es geht aber auch um Grundsätzliches. Zu Recht setzt die Politik auf den Abbau überbordender Bürokratie. Der Medizinische Dienst unterstützt dieses Ziel und treibt die digitale Transformation in seinen Handlungsfeldern voran. Nur damit kann die Servicequalität zeitgemäß ausgestaltet und die Akzeptanz für den Medizinischen Dienst als „Anwalt“ der Versicherten in Sachen Versorgungsqualität und bei der bedarfsgerechten und wirtschaftlichen Allokation der Leistungen nachhaltig gesichert werden. Weitere Aufgabenfelder für den Medizinischen Dienst könnten die Unterstützung einer konsequenten Ambulantisierung der Gesundheitsversorgung und die Reduzierung hoher Kosten durch eine insgesamt unsichere Versorgung sein.
Weitere Artikel aus ersatzkasse magazin. (1. Ausgabe 2025)
-
Versorgungskonzepte in ländlichen Regionen
„Regionale Gesundheitspartner“ der Ersatzkassen: Positive Bilanz nach einem Jahr